Eine
Legende vom heiligen Tarsitius
Es
war die Zeit der großen Christenverfolgungen in Rom. Grausam wüteten die
heidnischen Kaiser gegen alle, die an Jesus Christus glaubten. Jeder, den man
als Christ erkannte, wurde zum Tode verurteilt, wenn er sich weigerte, seinen
Glauben zu verraten.
Damals
hatten die Christen noch keine großen Kirchen. Sie trafen sich heimlich zum
Gottesdienst in Höhlen, die unter der Erde gebaut wurden. Katakomben nennt man
diese unterirdischen Räume.
Wieder
einmal hatten die Christen nachts in den Katakomben die Messe gefeiert. In der
Stille nach der Kommunion beteten sie gemeinsam: „Guter Gott, gib mir die
Kraft, dass ich deine Liebe niemals verrate und dem Glauben an dich nie untreu
werde.“
Die
Christen hatten wohl Grund, um Kraft zu bitten. Die Verfolgung war schlimmer als
je zuvor. Viele Christen waren hingerichtet worden. Viele waren eingekerkert und
mussten täglich mit ihrer Ermordung rechnen.
Am
Ende der Messe sagte der Priester zu den Gläubigen: „Ich habe zuverlässige
Nachricht, dass viele unserer gefangenen Schwestern und Brüder morgen den
wilden Tieren im kaiserlichen Zirkus vorgeworfen werden sollen. Gott möge ihnen
die Kraft geben, standhaft zu bleiben! Darum möchte ich ihnen heimlich die
heilige Kommunion ins Gefängnis bringen. Aber ich bin bei den Heiden bekannt
und kann es deshalb nicht wagen, denn das Allerheiligste darf den Heiden nicht
in die Hände fallen!“ Ohne zu zögern meldeten sich einige für diese gefährliche
Aufgabe. Während der Priester noch in die Runde sah, drängte sich ein zwölfjähriger
Junge nach vorn: „Lass mich die heilige Kommunion ins Gefängnis bringen!“
„Du bist noch zu jung, Tarsitius“, entgegnete der Priester lächelnd.
„Aber
bei keinem ist das Allerheiligste sicherer als bei mir“, sagte der Junge.
„Wer würde schon bei einem Kind Verdacht schöpfen?“ Eine Weile überlegte
der Priester schweigend. Ja, der Junge mochte recht haben. Vielleicht war die
heilige Kommunion bei keinem so sicher wie bei ihm. Also nahm er die kleine
Silberkapsel mit den Hostien und hängte sie dem Jungen um den Hals. Ehrfürchtig
umschloss Tarsitius das kleine Gefäß mit seiner rechten Hand unter seinem
Gewand. Dann verließ er den Raum.
Es
ist schon hell, als Tarsitius durch die Straßen Roms geht: Die Sonne leuchtet
im Frühlingslicht und die Vögel singen in den Bäumen. Tarsitius will beten
auf seinem Weg zum Gefängnis: „Ich danke dir, Gott, dass ich Dich zu den
anderen tragen darf!“ Mit einem Mal überkommt ihn die Angst: Wie sollte er
wohl in das Gefängnis hineinkommen? Er musste den Wächter überlisten, oder er
würde ihm die silberne Spange geben, die sein Gewand zusammenhält. Gerne würde
er das nicht tun, denn die silberne Spange ist ein Andenken an seine Mutter, die
vor ein paar Monaten in den Katakomben beerdigt worden war. Aber für Christus würde
er auch diese Spange abgeben!
Ganz
in Gedanken versunken geht Tarsitius durch das Stadttor in die innere Stadt,
vorbei am Tempel des Jupiter zum Platz der Kaiser. Da packt ihn auf einmal einer
heftig am Arm: „He, Tarsitius, was ist denn mit dir?“ schreit ihn ein Junge
an. Es ist Claudius, sein Mitschüler. „Ich hab` dich schon dreimal gerufen!
Du träumst wohl mit offenen Augen!“ „Was willst du denn von mir?“ fragt
ihn Tarsitius ärgerlich. „Na, mitspielen sollst du! Wir spielen Krieg: Römer
gegen die Perser. Ich bin der Römer-General. Aber die Perser haben noch keinen
vernünftigen Anführer.“
„Das
werden wir dir schon zeigen!“ braust eine Schar Jungen auf, die sich nun auch
herangedrängt haben, während die „Römer“ in ein lautes Triumphgeheul
ausbrechen. „Also los, Tarsitius, mach schon mit!“
Einen
Augenblick überlegt Tarsitius. Kriegspielen tat er ja immer für sein Leben
gern, und wo er mitmachte, war die Schlacht schon halb gewonnen. Aber jetzt hat
er eine andere, viel wichtigere Aufgabe! „Ich kann jetzt nicht“, sagt
Tarsitius ruhig. „Ich habe etwas zu erledigen. Das eilt!“ „So? Was hast du
denn so Eiliges und Wichtiges?“ fragt Claudius ärgerlich. „Das kann ich dir
jetzt nicht erklären. Und außerdem geht es dich nichts an!“ antwortet
Tarsitius und versucht, sich loszureißen. „Das wird ja immer
geheimnisvoller!“ Claudius hält ihn weiter fest. „Was hältst du da
eigentlich so fest in der Hand? Darf man das auch mal sehen?“ „Wohl ein
Kanarienvogel!“ schreit ein anderer dazwischen. „Oder vielleicht hat er
irgendwo Geld gestohlen!“ ruft wieder einer. „Jetzt wollen wir aber wissen,
was du da hast!“ sagt Claudius. „Her damit!“ „Ich zeige es euch
nicht“, antwortet Tarsitius. „Und nun lasst mich gehen!“ Da aber fällt
die Bande brüllend über ihn her und versucht, ihm den Gegenstand aus der Hand
zu reißen. Verzweifelt wehrt sich Tarsitius. Aber er hat ja nur eine Hand zur
Verteidigung frei. Mit der anderen hält er immer noch das Silbergefäß mit den
geweihten Hostien fest. Er lässt nicht los, so sehr ihn die anderen auch auf
dem Boden hin- und herwälzen. In ihrer Wut schlägt die Bande nun auf Tarsitius
ein. Sie treten ihn mit Füßen und schlagen ihn mit den Knüppeln, die sie für
ihr Kriegsspiel brauchten.
Einige
Erwachsene kommen hinzu, fragen nach der Ursache des Streits und werden selber
neugierig, was der Junge da in seiner Hand verbirgt. Vielleicht hat er doch
etwas gestohlen, was er nicht hergeben will.
Da
ruft plötzlich jemand: „Ihr Narren, wisst ihr nicht, was der bei sich trägt?
Das ist ein junger Christ, der seinen Gott bei sich hat!“ –
„Ein
Christ, ein Christ!“ schreien nun zehn, zwanzig Stimmen. Die Überraschung der
Leute schlägt um in Wut! Nun wollen sie sehen, was er da bei sich trägt. Und
wenn sie ihn totschlagen müssten! Was liegt schon daran, ob man einen Christen
erschlägt? Der Kaiser lässt sie im Zirkus zu Tausenden erschlagen! „Zeig
her, was du da hast!“ herrscht eine raue Stimme den Jungen an, der blutend und
fast ohnmächtig am Boden liegt. Aber seine Hand gibt die Silberkapsel mit den
geweihten Hostien nicht frei.
In
dem Augenblick drängt sich ein römischer Offizier unaufhaltsam durch den
Haufen der Schläger: „Schämt ihr euch nicht, ein wehrloses Kind zu überfallen?“
„Er ist Christ und trägt sein Geheimnis bei sich!“ verteidigt sich einer
der Umstehenden. „Was geht euch das an?“ donnert der Soldat. „Keiner rührt
ihn noch einmal an! Ist das klar?“ Daraufhin ziehen sich die Leute einer nach
dem anderen zurück.
Der
Offizier beugt sich über den Jungen, der benommen am Boden liegt: „Tarsitius!“
flüstert er. Der Junge öffnet langsam die Augen und erkennt den Offizier: Er
gehört selbst zu den Christen, die sich in den Katakomben versammelt hatten!
Mit letzter Kraft reicht Tarsitius dem Soldaten die Silberkapsel mit der
Kommunion: „Ich habe das Allerheiligste nicht ins Gefängnis bringen können,
aber ich habe es bis zuletzt verteidigt!“ Nach diesen Worten schließt er für
immer die Augen.
Der
Märtyrer Tarsitius wurde in den Kalixtus-Katakomben an der Via Appia in Rom
beerdigt. Sein Einsatz für den Glauben im 3. Jahrhundert nach Christi Geburt
war so groß, dass die Christen sich auch heute noch an ihn erinnern: Sein
Gedenktag ist der 15. August. Der heilige Tarsitius ist der Schutzpatron
aller Messdiener!