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Arbeitsgruppe der Ortschronisten der Ostfriesischen Landschaft


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Entnazifizierung in Ostfriesland
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am: 28.07.2017

Leitung:
Dr. Paul Weßels

Webmaster
H.-Jürgen Adams


 

 

Protokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe der Chronisten vom 27.06.2003 im alten Lesesaal der Landschaftsbibliothek in Aurich

12 Teilnehmer

Referent: Bahlmann

Entnazifizierung in Ostfriesland nach dem II. Weltkrieg

Hr. Bahlmann führt aus: Das Bild der Entnazifizierung ist heute in der Öffentlichkeit weitgehend geprägt von Erfahrungen aus der amerikanischen Zone. Über die Entnazifizierung in der britischen Zone gibt es bislang wenig Publikationen. Die  Amerikaner gingen mit dem großen Anspruch der kompletten Umerziehung des deutschen Volkes an die Entnazifizierung. Jeder Einwohner ihrer Zone über 21 Jahre sollte erfasst werden. Die Briten folgten im Sinne eines einheitlichen Vorgehens  zwar dem Beispiel der Amerikaner, waren aber gelassener. Vor allem sollte das Besatzungssystem funktionieren, die völlig zusammengebrochene Bürokratie wieder aufgebaut werden und dabei die Behörden von ehemaligen Nazis gereinigt werden.  Nur etwa 20 % der erwachsenen Bevölkerung wurde hier entnazifiziert. Deshalb wechselten ehemalige hohe Nazis vorzugsweise in die britische Zone, um hier für einige Zeit unterzutauchen. Für Ostfriesland und Varel ist als Beispiel dafür  Major Rehmer bekannt, der zum Maurer wurde.

Schon vor dem Ende des Krieges hatten die Alliierten Listen mit Personen erstellt, die sofort aus ihren Ämtern entfernt werden sollten. Nach dem Kriegsende wurden diese Personen verhaftet  und interniert. Etwa 200.000 bis 500.000 Niedersachsen waren in den Internierungslagern untergebracht und wurden nach und nach wieder entlassen. Aber nur ein geringer Teil wurde wegen Verbrechen angeklagt.

Den ersten Ansatz zu einem  breiten Entnazifizierungsverfahren bot die Finanzanweisung Nr. 3 vom August 1945. Danach waren alle Mitglieder von NSDAP, SS und SA vor 1933 aus den Finanzbehörden zu entfernen. Es wurden Listen aufgestellt und gemeinsam mit den Deutschen  durchgearbeitet. Aber es zeigte sich sofort, dass die Engländer solche Anweisungen nicht all zu eng sahen. Am 12.01.1946 erfolgte die Kontrallratsdirektive 24, die dann unter graduellen Abstufungen genau definierte Sanktionen vorsah. Unter  Mitarbeit von Deutschen arbeiteten die jetzt eingerichteten Entnazifizierungsausschüsse ab März 1946. Neben den Kreisausschüssen gab es eine Reihe von Unterausschüssen. Im Regierungsbezirk Aurich gibt es über das Zustandekommen und die  Zusammensetzung der Ausschüsse praktisch keine Informationen. Die Unterlagen sind nicht überliefert. Aber allgemein kann gesagt werden, dass die Ausschüsse ihre Arbeit ernst genommen haben.

Das starre von der Mitgliedschaft in  nazistischen Organisationen ausgehende Bewertungssystem wurde zunehmend differenziert und abgeschwächt. Dabei erleichterte die Mitarbeit von Deutschen in den Ausschüssen die Differenzierung. Die erste Welle der Entnazifizierungen traf  Lehrer und Verwaltungsbeamte.

1946 folgte eine Schwemme von Anweisungen zur Entnazifizierung, so dass System im Sommer 1946 vorübergehend zusammenbrach. Die Entnazifizierungsausschüsse formulierten Stellungnahmen, die an die  Militärregierung weitergeleitet wurden.

Zur Kategorisierung der Entnazifizierten gab es fünf Stufen. Die Kategorien I und II waren den Briten vorbehalten. Für die Kategorien III bis V waren die deutschen Entnazifizierungsausschüsse  tätig.

Die langwierigen Verfahren boten den Betroffenen häufig Anlass zu Ärger. 1947 bis 1948 kamen die Entnazifizierungsverfahren praktisch komplett in deutsche Hände. Das war verbunden mit einer automatischen Herabsetzung der  bisherigen Einstufung. 1952 wurde die Entnazifizierung abgeschlossen, 1954 endeten die letzten Verfahren. Weil gute Kräfte benötigt wurden, saßen die meisten Betroffenen nach der Beendigung des Verfahren in den Positionen, die sie auch  vorher bekleidet hatten. Oberster deutschen Verantwortlicher war der niedersächsische Minister für Entnazifizierung.

Die Militärregierung folgte in der Regel den Empfehlungen der Entnazifizierungsausschüsse. In Esens wurden ca. 10 %  der erwachsenen Bevölkerung entnazifiziert.

Wichtigster Kritikpunkt an dem Verfahren war die Umkehr der Beweislast. Dazu wurden entlastende Zeugenaussagen abgeliefert, sog. „Persilscheine“. In Esens mit ca. 3500 Einwohnern und einem  überschaubaren Netz sozialer Bindungen wurden ca. 445 Entnazifizierungsverfahren durchgeführt und in diesen tauchten insgesamt 600 „Persilscheine“ auf. Die Aussteller konzentrierten sich auf einen relativ kleinen Personenkreis: 25 Personen  produzierten mehr als 50 % der Scheine. Anders als in anderen Regionen waren die Aussteller nicht Kommunisten, Juden oder KZ-Häftlinge. Es zeigt sich, dass diese Personen der direkten Ansprache kaum entgehen konnten. Personen , die es  besser wussten, schwiegen, stellten kein Gegenzeugnis aus.

Die Zeugnisse waren meist kurz und stereotyp. Bei fast zwei Dritteln lautete die entlastende Aussage, der Betreffende sei politisch nicht hervorgetreten

Von den 445 erfassten Verfahren in Esens fielen in die Kategorie

Kategorie      Entnazifizierte                  Prozent                         Anteil der Persilscheine

III                            72                          16                                           81 %

IV                           86                           20                                            26 %

V                            23                           85                                            31 %

Nicht eingestuft         49                          11

 

Wer als sich Ortschronist mit den Entnazifizierungsverfahren  beschäftigen möchte, sollte sich an die Mitarbeiter des Staatsarchivs wenden. Nur eine Teil der in Aurich unter Rep. 250 vorhandenen etwa 54.000 Verfahrensakten ist über EDV zugänglich. Es ist aber möglich, auch zu den nicht im PC  verzeichneten Akten Zugang zu erhalten. Wer einen Ort umfassend erforschen möchte, sollte mit Einwohnerverzeichnissen arbeiten. Wer sich nur auf herausragende lokale Persönlichkeiten beziehen will, sollte sich aus anderen Unterlagen  zunächst einen Überblick verschaffen, welche Personen für eine weitergehende Recherche in Frage kommen.