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Protokoll des Treffens am 11.03.05 im alten Lesesaal der Landschaftsbibliothek Aurich
Bauerrichter und Bauerrecht in den ostfriesischen Landgemeinden
Anwesend: 25 Mitglieder
Protokoll: Dr. P.
Weßels
TOP 1: Verschiedenes.
Vor dem eigentlichen Vortrag wurden einige Fragen zur Ortsdatenbank Ostfriesland geklärt. Die Beachtung der Gliederung und die Beantwortung der sich innerhalb dieses
Schemas ergebenden Fragestellungen ist zwingend notwendig für die Vergleichbarkeit und den geschlossenen Aufbau des Lexikons. Auch die Einhaltung des Seitenlimits ist wichtig, um den Umfang des Lexikons nicht
ausufern zu lassen. Mittlerweile sind bereits mehrere Artikel von Herrn Erchinger, Kroon, Mammen und Rebuschat eingetroffen. Die Entscheidung über die Vergabe der Artikel an einzelne Bearbeiter liegt allein
bei der Radaktion und nicht etwa bei den Gemeinden.
Die Handreichungen und die ersten Artikel der Ortsdatenbank sind auch im Internet auf der Seite der Ortschronisten bei der Ostfriesischen Landschaft /
Landschaftsbibliothek Aurich einsehbar:
TOP 2: Vortrag von Frau Reemda Tieben:
„Buße und Schrift. Zur Konstitution der Gemeinde aufgrund von schriftlichem und rituellem Handeln in
der Gemeindeversammlung“
Frau Reemda Tieben studiert in Münster und hat ihre Magisterarbeit 2001 im Fach Geschichte über „Dörfliches Konfliktverhalten im 17. Jahrhundert - der Fall Weener /
Ostfriesland 1660“ geschrieben. Das Thema ihres derzeitigen Promotionsvorhabens lautet: „Konflikte zwischen Bauern und unterbäuerlichen Schichten im Ostfriesland der frühen Neuzeit“.
Die
Konflikte zwischen Bauern und unterbäuerlichen Schichten lässt sich in Ostfriesland an einer Reihe von Quellen des Staatsarchivs in Aurich – insbesondere Gerichtsprotokollen und auch Landtagsabschieden –
nachvollziehen. Die rechtliche Stellung der gemeindlichen Beamten war in der Zeit von 1600 bis 1744 fast autonom und kaum der direkten Kontrolle durch die Landesherrschaft ausgesetzt. Versuche zur Ausweitung
der Kontrolle über die gemeindliche Selbstorganisation sind weitgehend gescheitert. Die Rechtsgemeinschaft umfasste die Hausleute oder Interessenten mit vollen, halben oder viertel Plätzen. Warfsleute und
ländliche Unterschichten waren aus dem Konsensbereich der Gemeinden ausgeschlossen. Allerdings entfielen auch alle anfallenden, an den Hof gebundenen Lasten allein auf die Interessenten. Auf landschaftlichen
Versammlungen vertraten die Bauern die unterbäuerlichen Schichten ihrer Dörfer in einer Art, wie es sonst Adelige für ihre Hintersassen zu tun pflegten.
Die gewählten Beamten hatten eine starke Stellung
innerhalb der Gemeinde und bedurften keiner Bestätigung durch die Grafen bzw. Fürsten. Die eigenständige rechtliche Organisation der ostfriesischen Gemeinden währte bis weit in das 19. Jahrhundert.
Die
Bauerschaft als „politische“ Selbstorganisation war ein Teil sich überschneidender Korporationen innerhalb einer Gemeinde. Die Kirchengemeinde bildete das umfassende Gefäß, daneben gab es
Nutzungsgenossenschaften, Deichgenossenschaften, Sielgenossenschaften, Poolachten etc. (Die unterbäuerlichen Schichten übernahmen ihrerseits mitunter die gemeindlichen Organisationsformen für die Organisation
ihrer Belange nach innen, und es gibt Beispiele für die Wahl von Schüttemeistern aus diesen sozialen Unterschichten in einzelnen Orten.)
Aus den verschiedenen dörflichen Korporationen hatte sich in der Regel
eine als die führende in der jeweiligen Bauerschaft ausgebildet, so dass für die gleiche Funktion unterschiedliche Bezeichnungen vorherrschten: Poolrichter (als gewählter Vertreter der
Entwässerungsgenossenschaft), Bauerrichter (als Vertreter der Bauerschaft), Schüttemeister (als Vertreter der Genossenschaft der Nutzungsberechtigten der Gemeindeweide), Kedde (im Broekmerland als Nachfolger
der mittelalterlichen Sprecher Künder oder Vollstreckungsbeamten). Ursprünglich waren diese nur die bestellten Beamten ihres Bereichs, später übernahmen sie zusammenfassend die Aufgaben der verschiedenen
Korporationen.
Die Interessenten einer Gemeinde – volle, halbe und viertel Plätze – hatten aktives und passives Wahlrecht, was aber nicht für die Warfsleute galt. Die Realgemeinde grenzte
sich damit rechtlich sehr deutlich gegen ihre Unterschichten ab. Regelmäßige Neuwahlen sicherte den Wechsel im Amt, es konnte aber auch sein, das das Amt unter allen Berechtigten rollierte.
Die Amtdauer
der Beamten währte in der Regel ein bis zwei Jahre, selten lebenslänglich. Die Zahl der Beamten war unterschiedlich je nach Größe der Gemeinden zwischen ein und vier Vertretern. Die Aufgaben der
Gemeindebeamten differierten von Kirchspiel zu Kirchspiel. In der Regel handelte es sich um die niedere Gerichtsbarkeit, Schiedsgerichtsbarkeit (bei Allmende- und Grenz- und Flurstreitigkeiten etc.), Wiesen- und
Weide-, Gräbenschau, Kassenführung etc.
Die Bauerrichter konnten als „Strafe“ Brüche verhängen, die eher als Gebühr und als Schadensersatz denn als Strafe anzusehen waren. Die Hälfte der Brüche
ging an den Bauerrichter, die andere Hälfte an die Gemeinde. Ziel der niederen Gerichtsbarkeit war – um den Delinquenten nicht auf längere Zeit von der Gemeinschaft auszuschließen – der Ausgleich
zwischen den Konfliktparteien, nicht die Bestrafung. Überschüsse der Brüche über eine gewisse Grenze hinaus sollten an den Landesherrn abgegeben werden, was aber kaum gemacht wurde.
Die
Gemeindeversammlung der Berechtigten fand in der Regel einmal jährlich oder nach Bedarf angekündigt durch den Glockenschlag unter freiem Himmel auf dem Kirchhof statt – seltener in der Kirche selbst.
Über andere Versammlungsorte ist zum berichteten Zeitraum nichts bekannt. Gegenstand der Versammlung war die Rechnungslegung und die Neuwahl bzw. Bestimmung des nächsten Bauerrichters. Ein Teil der Brüche
floss in die gemeindlichen Lasten. Ein wichtiger Bestandteil der Versammlungen war das Vertrinken der überflüssigen Brüche, die oft in Form von Bier geleistet werden mussten. Während die unterbäuerlichen
Schichten über die Verschwendung der Brüche beschwerten – sie waren zu der Versammlung nicht zugelassen –, bedeutete das gemeinsame Gelage für die Berechtigten ein Ritual, das der Wiederaufnahme des
Büßers in die Gemeinschaft gleichkam. Der Ausgleich sorgte für die Wiederherstellung der Konsensgesellschaft. Auf diese Weise konnten die innerdörflichen Konflikte meist selbst geregelt werden.
Auf den
jährlichen Versammlungen – häufig zu Fastnacht (z.B. Osterloog) oder Michaelis (z.B. Ogenbargen) wurde jeweils bei der Wahl die Dorfordnung übergeben. Diese Dorfordnungen können heute als Quellen des
ländlichen Lebens dienen. Die Gemeinde hatte – wohl als Folge mittelalterlicher Rechtsverhältnisse – die Befugnis, das eigene Recht zu bewahren und fortzuentwickeln und bedurfte dafür keiner
herrschaftlichen Bestätigung. Diese Rechtssituation in Ostfriesland stellte eine Besonderheit im Deutschen Reich dar. 1721 gab es im Zuge eines absolutistischen Neuordnungsansatzes einen vergeblichen Versuch
des Fürsten, Einfluss auf die innergemeindlichen Ordnungen zu gewinnen. Immerhin verstärkte dieser Ansatz aber einen Verschriftlichungsprozess, der bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts eingesetzt hatte.
Einzelne Gemeinden wehrten sich zwar gegen die Forderungen des Fürsten, um das eigene Rechtswesen vor Eingriffen zu schützen, insgesamt verdankt sich dieser Initiative des Fürsten aber die Überlieferung
etlicher Rollen. Ostfriesland war für den hier behandelten Zeitraum im Vergleich zum Deutschen Reich durch einen hohen Grad von Schriftlichkeit geprägt, der in den bäuerlichen Schichten 90 % und in den
unterbäuerlichen Schichten bis zu 70 % betragen haben könnte.
Verschriftlichung war aber nicht Voraussetzung für die Wirksamkeit und Legitimation der sozialen Ordnung. Daneben stand das Ritual mit
festgelegtem Datum, festgelegten Ort und Glockenschlag und die Tradition der mündlichen Überlieferung der Ordnung auf den jährlichen Versammlungen, auf denen der Bauerrichter das Rechts jeweils anerkannte. Das
Ritual der Übergabe an den Nachfolger gewährleistete die allgemeine Gültigkeit des als eine Art „Heiligtum“ (z.B. Victorbur) betrachteten Dorfrechts. Die Gemeinschaft schaffte sich den notwendigen
öffentlichen Konsens. Außerdem wurde die Ordnung mehrmals im Jahr von der Kanzel verlesen.
Für die Legitimität des Bauerrechts war die Verschriftlichung also nicht notwendig. Der Rückbezug auf altes
Recht, die Tradition der mündlichen Überlieferung, die Verknüpfung mit der Person des Bauerrichters führten zur unbedingten Gültigkeit auch des mündlichen überlieferten
Textes.
Literaturhinweise:
* Ebel, Wilhelm, Ostfriesische Bauerrechte (Quellen zur Geschichte Ostfrieslands ; 5), Aurich 1964. (BS, H 6) * Ebel,
Wilhelm, Zur Rechtsgeschichte der Landgemeinde in Ostfriesland, in: Vorträge und Forschungen, Band VII, S. 305-324 (V 25) * König, Joseph, Verwaltungsgeschichte Ostfrieslands bis zum Aussterben
seines Fürstenhauses (Veröffentlichungen der niedersächsischen Archivverwaltung 2), Göttingen 1955. (BS, M 161). * Koolman, Egbert, Gemeinde und Amt. Untersuchungen zur Geschichte von
gemeindlicher Selbstverwaltung und landesherrlicher Amtsverwaltung im südlichen Ostfriesland (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands ; 50), Aurich 1969. * Pauls, Theodor, Aus dem
Pfarrarchive einer ostfriesischen Landgemeinde [Aurich-Oldendorf] (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 12), Aurich 1910 * Swart, F[riedrich], Zur friesischen Agrargeschichte
(Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen 145), Leipzig 1910 * Unruh, Georg-Christoph von, Poolrichter - Bauerrichter – Schüttmeister, in: Beiträge zur Heimatkunde und Geschichte
von Kreis und Stadt Leer, S. 53-69.
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