PENCIL_TRANS

Arbeitsgruppe der Ortschronisten der Ostfriesischen Landschaft


leader+
(C) Ostfriesische Landschaft Aurich 2005 bis 2010.  Alle Rechte vorbehalten
Die Erstellung der Historischen Ortsdatenbank Ostfriesland wird gefördert durch Mittel von leader+




Bauerrichter und Bauerrecht in den ostfriesischen Landgemeinden
Arbeitsgruppe
aktuell
Mitarbeiter
Protokolle
Jahresberichte
Aufsätze und Literatur
Hist. Ortsdatenbank
Kontakt

Letzte Aktualisierung
am: 28.07.2017

Leitung:
Dr. Paul Weßels

Webmaster
H.-Jürgen Adams


 

 

Protokoll des Treffens am 11.03.05 im alten Lesesaal der Landschaftsbibliothek Aurich

Bauerrichter und Bauerrecht in den ostfriesischen Landgemeinden

Anwesend: 25 Mitglieder

Protokoll: Dr. P. Weßels

TOP 1: Verschiedenes.

Vor dem eigentlichen Vortrag wurden einige Fragen zur Ortsdatenbank Ostfriesland geklärt. Die Beachtung der Gliederung und die Beantwortung der sich innerhalb dieses Schemas ergebenden Fragestellungen ist  zwingend notwendig für die Vergleichbarkeit und den geschlossenen Aufbau des Lexikons. Auch die Einhaltung des Seitenlimits ist wichtig, um den Umfang des Lexikons nicht ausufern zu lassen. Mittlerweile sind bereits mehrere Artikel von  Herrn Erchinger, Kroon, Mammen und Rebuschat eingetroffen. Die Entscheidung über die Vergabe der Artikel an einzelne Bearbeiter liegt allein bei der Radaktion und nicht etwa bei den Gemeinden.

Die Handreichungen und die ersten  Artikel der Ortsdatenbank sind auch im Internet auf der Seite der Ortschronisten bei der Ostfriesischen Landschaft / Landschaftsbibliothek Aurich einsehbar:

 

TOP 2: Vortrag von Frau Reemda Tieben:

„Buße und  Schrift. Zur Konstitution der Gemeinde aufgrund von schriftlichem und rituellem Handeln in der Gemeindeversammlung“

Frau Reemda Tieben studiert in Münster und hat ihre Magisterarbeit 2001 im Fach Geschichte über „Dörfliches  Konfliktverhalten im 17. Jahrhundert - der Fall Weener / Ostfriesland 1660“ geschrieben. Das Thema ihres derzeitigen Promotionsvorhabens lautet: „Konflikte zwischen Bauern und unterbäuerlichen Schichten im Ostfriesland der frühen Neuzeit“.

Die Konflikte zwischen Bauern und unterbäuerlichen Schichten lässt sich in Ostfriesland an einer Reihe von Quellen des Staatsarchivs in Aurich – insbesondere Gerichtsprotokollen und auch Landtagsabschieden – nachvollziehen. Die  rechtliche Stellung der gemeindlichen Beamten war in der Zeit von 1600 bis 1744 fast autonom und kaum der direkten Kontrolle durch die Landesherrschaft ausgesetzt. Versuche zur Ausweitung der Kontrolle über die gemeindliche  Selbstorganisation sind weitgehend gescheitert. Die Rechtsgemeinschaft umfasste die Hausleute oder Interessenten mit vollen, halben oder viertel Plätzen. Warfsleute und ländliche Unterschichten waren aus dem Konsensbereich der Gemeinden  ausgeschlossen. Allerdings entfielen auch alle anfallenden, an den Hof gebundenen Lasten allein auf die Interessenten. Auf landschaftlichen Versammlungen vertraten die Bauern die unterbäuerlichen Schichten ihrer Dörfer in einer Art, wie es  sonst Adelige für ihre Hintersassen zu tun pflegten.

Die gewählten Beamten hatten eine starke Stellung innerhalb der Gemeinde und bedurften keiner Bestätigung durch die Grafen bzw. Fürsten. Die eigenständige rechtliche Organisation  der ostfriesischen Gemeinden währte bis weit in das 19. Jahrhundert.

Die Bauerschaft als „politische“ Selbstorganisation war ein Teil sich überschneidender Korporationen innerhalb einer Gemeinde. Die Kirchengemeinde bildete das  umfassende Gefäß, daneben gab es Nutzungsgenossenschaften, Deichgenossenschaften, Sielgenossenschaften, Poolachten etc. (Die unterbäuerlichen Schichten übernahmen ihrerseits mitunter die gemeindlichen Organisationsformen für die  Organisation ihrer Belange nach innen, und es gibt Beispiele für die Wahl von Schüttemeistern aus diesen sozialen Unterschichten in einzelnen Orten.)

Aus den verschiedenen dörflichen Korporationen hatte sich in der Regel eine als  die führende in der jeweiligen Bauerschaft ausgebildet, so dass für die gleiche Funktion unterschiedliche Bezeichnungen vorherrschten: Poolrichter (als gewählter Vertreter der Entwässerungsgenossenschaft), Bauerrichter (als Vertreter der  Bauerschaft), Schüttemeister (als Vertreter der Genossenschaft der Nutzungsberechtigten der Gemeindeweide), Kedde (im Broekmerland als Nachfolger der mittelalterlichen Sprecher Künder oder Vollstreckungsbeamten). Ursprünglich waren diese  nur die bestellten Beamten ihres Bereichs, später übernahmen sie zusammenfassend die Aufgaben der verschiedenen Korporationen.

Die Interessenten einer Gemeinde – volle, halbe und viertel Plätze – hatten aktives und passives  Wahlrecht, was aber nicht für die Warfsleute galt. Die Realgemeinde grenzte sich damit rechtlich sehr deutlich gegen ihre Unterschichten ab. Regelmäßige Neuwahlen sicherte den Wechsel im Amt, es konnte aber auch sein, das das Amt unter  allen Berechtigten rollierte.

Die Amtdauer der Beamten währte in der Regel ein bis zwei Jahre, selten lebenslänglich. Die Zahl der Beamten war unterschiedlich je nach Größe der Gemeinden zwischen ein und vier Vertretern. Die  Aufgaben der Gemeindebeamten differierten von Kirchspiel zu Kirchspiel. In der Regel handelte es sich um die niedere Gerichtsbarkeit, Schiedsgerichtsbarkeit (bei Allmende- und Grenz- und Flurstreitigkeiten etc.), Wiesen- und Weide-,  Gräbenschau, Kassenführung etc.

Die Bauerrichter konnten als „Strafe“ Brüche verhängen, die eher als Gebühr und als Schadensersatz denn als Strafe anzusehen waren. Die Hälfte der Brüche ging an den Bauerrichter, die andere Hälfte an  die Gemeinde. Ziel der niederen Gerichtsbarkeit war – um den Delinquenten nicht auf längere Zeit von der Gemeinschaft auszuschließen – der Ausgleich zwischen den Konfliktparteien, nicht die Bestrafung. Überschüsse der Brüche über eine  gewisse Grenze hinaus sollten an den Landesherrn abgegeben werden, was aber kaum gemacht wurde.

Die Gemeindeversammlung der Berechtigten fand in der Regel einmal jährlich oder nach Bedarf angekündigt durch den Glockenschlag unter  freiem Himmel auf dem Kirchhof statt – seltener in der Kirche selbst. Über andere Versammlungsorte ist zum berichteten Zeitraum nichts bekannt. Gegenstand der Versammlung war die Rechnungslegung und die Neuwahl bzw. Bestimmung des nächsten  Bauerrichters. Ein Teil der Brüche floss in die gemeindlichen Lasten. Ein wichtiger Bestandteil der Versammlungen war das Vertrinken der überflüssigen Brüche, die oft in Form von Bier geleistet werden mussten. Während die unterbäuerlichen  Schichten über die Verschwendung der Brüche beschwerten – sie waren zu der Versammlung nicht zugelassen –, bedeutete das gemeinsame Gelage für die Berechtigten ein Ritual, das der Wiederaufnahme des Büßers in die Gemeinschaft gleichkam.  Der Ausgleich sorgte für die Wiederherstellung der Konsensgesellschaft. Auf diese Weise konnten die innerdörflichen Konflikte meist selbst geregelt werden.

Auf den jährlichen Versammlungen – häufig zu Fastnacht (z.B. Osterloog) oder  Michaelis (z.B. Ogenbargen) wurde jeweils bei der Wahl die Dorfordnung übergeben. Diese Dorfordnungen können heute als Quellen des ländlichen Lebens dienen. Die Gemeinde hatte – wohl als Folge mittelalterlicher Rechtsverhältnisse – die  Befugnis, das eigene Recht zu bewahren und fortzuentwickeln und bedurfte dafür keiner herrschaftlichen Bestätigung. Diese Rechtssituation in Ostfriesland stellte eine Besonderheit im Deutschen Reich dar. 1721 gab es im Zuge eines  absolutistischen Neuordnungsansatzes einen vergeblichen Versuch des Fürsten, Einfluss auf die innergemeindlichen Ordnungen zu gewinnen. Immerhin verstärkte dieser Ansatz aber einen Verschriftlichungsprozess, der bereits zu Beginn des 17.  Jahrhunderts eingesetzt hatte. Einzelne Gemeinden wehrten sich zwar gegen die Forderungen des Fürsten, um das eigene Rechtswesen vor Eingriffen zu schützen, insgesamt verdankt sich dieser Initiative des Fürsten aber die Überlieferung  etlicher Rollen. Ostfriesland war für den hier behandelten Zeitraum im Vergleich zum Deutschen Reich durch einen hohen Grad von Schriftlichkeit geprägt, der in den bäuerlichen Schichten 90 % und in den unterbäuerlichen Schichten bis zu 70  % betragen haben könnte.

Verschriftlichung war aber nicht Voraussetzung für die Wirksamkeit und Legitimation der sozialen Ordnung. Daneben stand das Ritual mit festgelegtem Datum, festgelegten Ort und Glockenschlag und die Tradition  der mündlichen Überlieferung der Ordnung auf den jährlichen Versammlungen, auf denen der Bauerrichter das Rechts jeweils anerkannte. Das Ritual der Übergabe an den Nachfolger gewährleistete die allgemeine Gültigkeit des als eine Art  „Heiligtum“ (z.B. Victorbur) betrachteten Dorfrechts. Die Gemeinschaft schaffte sich den notwendigen öffentlichen Konsens. Außerdem wurde die Ordnung mehrmals im Jahr von der Kanzel verlesen.

Für die Legitimität des Bauerrechts war  die Verschriftlichung also nicht notwendig. Der Rückbezug auf altes Recht, die Tradition der mündlichen Überlieferung, die Verknüpfung mit der Person des Bauerrichters führten zur unbedingten Gültigkeit auch des mündlichen überlieferten  Textes.

 

Literaturhinweise:

   * Ebel, Wilhelm, Ostfriesische Bauerrechte (Quellen zur Geschichte Ostfrieslands ; 5), Aurich 1964. (BS, H 6)
    * Ebel, Wilhelm, Zur Rechtsgeschichte der Landgemeinde in Ostfriesland, in: Vorträge und Forschungen, Band VII, S. 305-324 (V 25)
    * König, Joseph, Verwaltungsgeschichte Ostfrieslands bis zum Aussterben seines Fürstenhauses (Veröffentlichungen der niedersächsischen Archivverwaltung 2), Göttingen 1955. (BS, M 161).
    * Koolman, Egbert, Gemeinde und Amt. Untersuchungen zur Geschichte von gemeindlicher Selbstverwaltung und landesherrlicher Amtsverwaltung im südlichen Ostfriesland (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands ; 50), Aurich 1969.
   * Pauls, Theodor, Aus dem Pfarrarchive einer ostfriesischen Landgemeinde [Aurich-Oldendorf] (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 12), Aurich 1910
    * Swart, F[riedrich], Zur friesischen Agrargeschichte (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen 145), Leipzig 1910
    * Unruh, Georg-Christoph von, Poolrichter - Bauerrichter – Schüttmeister, in: Beiträge zur Heimatkunde und Geschichte von Kreis und Stadt Leer, S. 53-69.