Protokoll des Treffens am 10.06.05 im alten Lesesaal der Landschaftsbibliothek Aurich
Pd. Dr. Bernhard Parisius, Flüchtlinge und Vertriebene in Ostfriesland
Anwesend: 18
Mitarbeiter
Referent: Pd. Dr. Bernhard Parisius
Protokoll auf der Grundlage des Vortragsmanuskripts: Dr. P. Weßels
TOP 1: Verschiedenes
Wegen der plötzlichen
Erkrankung des angekündigten Referenten musste der für Juli vorgesehene Vortrag über Flüchtlinge und Vertriebene in Ostfriesland vorgezogen werden. Das angekündigte Thema wird nachgeholt. Die
Volltextversion Rudolf Nassuas über das Kriegsende ist mittlerweile der Internetseite der Ortschronistenabrufbar.
TOP 2: Flüchtlinge und Vertriebene in Ostfriesland
In Ostfriesland
ist die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt relativ problemlos verlaufen, weil hier verhältnismäßig wenig Flüchtlinge und Vertriebene lebten. Im
Osten des Landes Niedersachsen war jeder dritte oder vierte Bewohner Flüchtling oder Vertriebener, im Westen des Landes nur jeder fünfte oder sechste.
Britische Militärregierung und deutsche
Verwaltung wollten die Konzentration der Flüchtlinge und Vertriebenen im Osten der ehemaligen Provinz Hannover möglichst schnell aufheben und umverteilen. Das gelang aber wegen des anhaltenden Zustroms von
Flüchtlinge und Vertriebenen und ihres Widerstands gegen die Zwangszuweisung nicht. Die Vertriebenen weigerten sich entweder, den Anweisungen zu folgten oder kehrten aus dem Weser-Ems-Gebiet schnell wieder in
den Osten Niedersachsens zurück. Die vor der Roten Armee geflohenen Bauern ließen sich hinter der Grenze nieder, um möglichst schnell auf ihre Höfe zurückkehren zu können, und Arbeiter strebten wegen besserer
Perspektiven in das hannoversch-braunschweigische Industriegebiet. Dennoch kamen im ersten Vierteljahr nach Einsetzen der Vertriebenentransporte aus Schlesien 1946 über 21.000 Vertriebene nach Ostfriesland,
darunter auch viele Einzelflüchtlinge. Doch schon Ende Oktober 1946 hatten die meisten von ihnen Ostfriesland schon wieder verlassen. Doch es gab auch Flüchtlinge und Vertriebene, die gerade in die ländlichen
Regionen des Untersuchungsgebietes wollten, weil sie sich im Westen Niedersachsens Sicherheit und Versorgung versprachen.
In den Regierungsbezirken Aurich und Osnabrück begann erst bei der Aufnahme der
Vertriebenentransporte ab Februar 1946 eine planmäßige Verteilung. In den meisten Landkreisen wurden Flüchtlinge und Vertriebene in entlegenen Gemeinden an den Kreisgrenzen untergebracht, um
Rückstaus zu vermeiden. Die Städte wurden dagegen ”geschont”, um die hier vorhandenen Arbeitsplätze besser mit jungen Facharbeitern besetzen zu können. So gelang es vor allem jüngeren, qualifizierten
Flüchtlingen und Vertriebenen diese Arbeitsplätze in den Kommunen einzunehmen.
Die Flüchtlinge und Vertriebenen im Regierungsbezirk Aurich hatten ein hohes Durchschnittsalter, der Anteil der
Flüchtlingsmänner war unterdurchschnittlich und der Anteil von Menschen, die schon in der Heimat keine Berufsperspektive mehr gehabt hatten, war größer. Zur Verbesserung ihrer Lage entschlossen sich viele, die
es nach Ostfriesland verschlagen hatte, zur Abwanderung aus der Region. Da immer noch weitere Flüchtlinge und Vertriebene nachrückten, führte das aber nicht zu einem Rückgang der Flüchtlingszahlen. Andere strebten
in die nächstgelegenen Städte oder Kleinstädte und zentraler gelegene, größere Dörfer. Zwischen 1946 und 1960 stieg der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen, die in Orten mit mehr als 2.000 Einwohnern
lebten, von unter 30% auf rund 70%. Der Wegzug von verstärkte sich in den 1950er Jahren auf Grund der der durch das Grundgesetz garantierten Freizügigkeit und durch Umsiedlungsprogramme. Die Binnenwanderer
strebten weiterhin vor allem in die Regierungsbezirke Lüneburg, Hannover, Hildesheim und Braunschweig.
Wie viele Flüchtlinge und Vertriebene langfristig in den ostfriesischen Dörfern und Städten
blieben, hing vor allem vom Angebot an Arbeitsstellen ab. In Ostfriesland blieben viele Hochqualifizierte in Verwaltung oder Lehrberufen, kleine Geschäftsleute mit neu aufgebauten Existenzen, Vertriebene aus
der Landwirtschaft mit neuen Siedlerstellen. Vertriebene Landarbeiter mit neuen Beschäftigungsmöglichkeiten. Andere Flüchtlinge und Vertriebene zogen die Geborgenheit in der Lagergemeinschaft und der Aussicht,
Eigenheime zu errichten, alternativen Berufsperspektiven vor.
Insgesamt haben die Flüchtlinge und Vertriebenen im Untersuchungsgebiet große Aufbauleistungen erbracht, die Wirtschaft gestärkt und zu
einer Öffnung der Gesellschaft beigetragen. Schwere Konflikte zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen konnten vor allem durch die Mobilität der Neuangekommenen vermieden werden. Eine
gegenseitige Auswahl hat dazu geführt, dass der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Modernisierung auf dem Lande aber oft nur schwer zu erkennen ist. Im Schulbereich lässt sich der positive Einfluss der
Flüchtlinge und Vertriebenen am besten nachweisen. Die Einsicht in die Bedeutung der Schulbildung und der qualifizierten Berufsausbildung auf Lande erhöhte sich. Besonders katholische Vertriebene schickten
ihre Kinder auf weiterführende Schulen als einzige, Erfolg versprechende Zukunftsperspektive.
Die langfristige Wirkung der Flüchtlinge und Vertriebenen für Ostfriesland kann sowohl unter wirtschaftlichen als
auch politischen und kulturellen Aspekten als eine ”Stärkung der Provinz” gesehen werden.
Literatur:
Parisius, Bernhard,Viele suchten sich ihre neue Heimat selbst. Flüchtlinge und
Vertriebene im westlichen Niedersachsen (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, 79), Aurich, Ostfriesische Landschaftliche Verl. und Vertriebsges., 2004, ISBN
3-932206-42-8.
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