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Arbeitsgruppe der Ortschronisten der Ostfriesischen Landschaft


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Flüchtlinge und Vertriebene in Ostfriesland
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Letzte Aktualisierung
am: 28.07.2017

Leitung:
Dr. Paul Weßels

Webmaster
H.-Jürgen Adams


 

 

Protokoll des Treffens am 10.06.05 im alten Lesesaal der Landschaftsbibliothek Aurich

Pd. Dr. Bernhard Parisius, Flüchtlinge und Vertriebene in Ostfriesland

Anwesend: 18 Mitarbeiter

 

Referent: Pd. Dr. Bernhard Parisius

Protokoll auf der Grundlage  des Vortragsmanuskripts: Dr. P. Weßels

TOP 1: Verschiedenes

Wegen der plötzlichen  Erkrankung des angekündigten Referenten musste der für Juli  vorgesehene Vortrag  über Flüchtlinge und Vertriebene in Ostfriesland vorgezogen werden. Das angekündigte Thema wird nachgeholt. Die Volltextversion Rudolf Nassuas über das  Kriegsende ist mittlerweile der Internetseite der  Ortschronistenabrufbar.

TOP 2: Flüchtlinge und Vertriebene in  Ostfriesland

In Ostfriesland ist die  Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem  Zweiten Weltkrieg nicht  zuletzt relativ problemlos verlaufen, weil hier verhältnismäßig wenig Flüchtlinge und Vertriebene lebten. Im Osten des Landes Niedersachsen war jeder  dritte oder vierte Bewohner Flüchtling oder  Vertriebener, im Westen des Landes nur jeder fünfte oder sechste.

Britische Militärregierung und deutsche Verwaltung wollten die Konzentration der Flüchtlinge und  Vertriebenen im Osten der ehemaligen Provinz Hannover möglichst schnell aufheben und umverteilen. Das gelang aber wegen des anhaltenden Zustroms von Flüchtlinge  und Vertriebenen und ihres Widerstands gegen die Zwangszuweisung nicht. Die Vertriebenen weigerten sich entweder, den Anweisungen zu folgten oder kehrten aus dem Weser-Ems-Gebiet schnell wieder in den Osten Niedersachsens zurück. Die vor der Roten Armee geflohenen Bauern ließen sich hinter der Grenze nieder, um möglichst schnell auf ihre Höfe zurückkehren zu können, und Arbeiter strebten wegen besserer Perspektiven in das hannoversch-braunschweigische Industriegebiet. Dennoch kamen im ersten Vierteljahr nach Einsetzen der Vertriebenentransporte aus Schlesien 1946 über 21.000 Vertriebene nach  Ostfriesland, darunter auch viele Einzelflüchtlinge. Doch schon Ende Oktober 1946 hatten die meisten von ihnen Ostfriesland schon wieder verlassen. Doch es gab auch Flüchtlinge und Vertriebene, die gerade in die ländlichen Regionen des Untersuchungsgebietes wollten, weil sie sich im Westen Niedersachsens Sicherheit und Versorgung versprachen.

In den Regierungsbezirken  Aurich und Osnabrück begann erst bei der Aufnahme der Vertriebenentransporte ab  Februar 1946 eine planmäßige Verteilung. In den meisten Landkreisen wurden Flüchtlinge und Vertriebene in  entlegenen Gemeinden an den Kreisgrenzen  untergebracht, um Rückstaus zu vermeiden. Die Städte wurden dagegen ”geschont”, um die hier vorhandenen Arbeitsplätze besser mit jungen Facharbeitern besetzen zu können. So gelang es vor allem jüngeren, qualifizierten Flüchtlingen und Vertriebenen diese Arbeitsplätze in den Kommunen einzunehmen.

Die Flüchtlinge und  Vertriebenen im Regierungsbezirk Aurich hatten ein hohes Durchschnittsalter, der  Anteil der Flüchtlingsmänner war unterdurchschnittlich und der Anteil von  Menschen, die schon in der Heimat keine Berufsperspektive mehr gehabt hatten, war größer. Zur Verbesserung ihrer Lage entschlossen sich viele, die es nach Ostfriesland verschlagen hatte, zur Abwanderung aus der Region. Da immer noch weitere Flüchtlinge und Vertriebene nachrückten, führte das aber nicht zu einem Rückgang der Flüchtlingszahlen. Andere strebten in die nächstgelegenen Städte  oder Kleinstädte und zentraler gelegene, größere Dörfer. Zwischen 1946 und 1960 stieg der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen, die in Orten mit mehr als  2.000 Einwohnern lebten, von unter 30% auf rund 70%. Der Wegzug von verstärkte sich in den 1950er Jahren auf Grund der der durch das Grundgesetz  garantierten Freizügigkeit und durch Umsiedlungsprogramme. Die Binnenwanderer strebten weiterhin vor allem in die Regierungsbezirke Lüneburg, Hannover, Hildesheim und Braunschweig.

Wie viele Flüchtlinge und  Vertriebene langfristig in den ostfriesischen Dörfern und Städten blieben, hing  vor allem vom Angebot an Arbeitsstellen ab. In Ostfriesland blieben viele Hochqualifizierte in Verwaltung oder Lehrberufen, kleine Geschäftsleute mit neu aufgebauten Existenzen, Vertriebene aus der Landwirtschaft mit neuen Siedlerstellen. Vertriebene Landarbeiter mit neuen Beschäftigungsmöglichkeiten. Andere Flüchtlinge und Vertriebene zogen die Geborgenheit in der Lagergemeinschaft und der Aussicht, Eigenheime zu errichten, alternativen Berufsperspektiven vor.

Insgesamt haben die  Flüchtlinge und Vertriebenen im Untersuchungsgebiet große Aufbauleistungen erbracht, die Wirtschaft gestärkt und zu einer Öffnung der Gesellschaft  beigetragen. Schwere Konflikte zwischen  Einheimischen und Neuankömmlingen  konnten vor allem durch die Mobilität der Neuangekommenen vermieden werden. Eine gegenseitige Auswahl hat dazu geführt, dass der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Modernisierung auf dem Lande aber oft nur schwer zu erkennen ist. Im Schulbereich lässt sich der positive Einfluss der Flüchtlinge und  Vertriebenen am besten nachweisen. Die Einsicht in die Bedeutung der Schulbildung und der qualifizierten Berufsausbildung auf Lande erhöhte sich. Besonders katholische Vertriebene schickten ihre Kinder auf weiterführende Schulen als einzige, Erfolg versprechende Zukunftsperspektive.

Die langfristige Wirkung der Flüchtlinge und Vertriebenen für Ostfriesland kann sowohl unter wirtschaftlichen als auch politischen und kulturellen Aspekten als eine  ”Stärkung der Provinz” gesehen werden.

Literatur:

Parisius, Bernhard,Viele suchten sich ihre neue Heimat selbst. Flüchtlinge und Vertriebene im westlichen  Niedersachsen  (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, 79), Aurich, Ostfriesische Landschaftliche Verl. und Vertriebsges., 2004, ISBN  3-932206-42-8.