Dieser Artikel ist
der Dissertation „Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19.
und 20 Jahrhunderts“, Universität Bremen 2000 entnommen worden. In leicht
abgewandelter Form ebenfalls erschienen in:
- Der Entwürdigung widerstehen – Schach in den KZ´s des Emslands, in: Die Jahrhundert-Meisterschaft im Schach. Die Deutsche Einzelmeisterschaft 1998 in Bremen und zur Schachgeschichte der Hansestadt. Herausgegeben von Claus Dieter Meyer und Till Schelz-Brandenburg, Bremen 2001, S. 307-325
-
Spielen und Überleben. Das Schachspiel in den Lagern und Ghettos der
Nazis, in: Fietje Ausländer, Bücher gegen den Schlussstrich,
DIZ-Nachrichten, 20/1998, S. 49-57
Vgl. zudem: Schach als Lebensretter
01.02.2005Das
Schachspiel als Mittel zur Erhaltung der psychischen Integrität unter der
nationalsozialistischen Herrschaft
Spiel ist die große Kunst der Zeitvermehrung. Das ist das Wunderbare am Spiel, daß die Zeit stillsteht, die einem sonst wegläuft oder die man totschlagen muß. Uns wird, spielend, eine andere Zeit geschenkt. Wir dürfen wieder einer anderen Zeit zugehören, nämlich einer Zeit, die immer etwas mit Ewigkeit zu tun hat.[1]
Keine Kindheit ist ohne Spiele, keine Gesellschaft war je ohne sie. Das Spektrum dessen, was wir mit dem Spiel verbinden, ist weit. In der Zweckfreiheit des Spiels, in der die Welt für eine Zeitlang vergessen wird, die Zeit vermehrt, totgeschlagen oder die andere Zeit sichtbar wird, gewinnt der Spieler Distanz zu ihr und zu sich selbst. Spiel ist die Utopie des geordneten, regelgerechten Handelns in einer Welt des Als-Ob, in der weder Not, Mangel noch Zwang herrscht. Personen, die der Freiheit beraubt wurden, haben sich demgemäß in der Geschichte häufig die Zeit mit Spielen vertrieben. Das Spiel diente dabei nicht nur dem Zeitvertreib und der Zerstreuung, um der schmerzlichen Wirklichkeit zu entfliehen, sondern war oftmals geistiges Training, um sich den Strapazen der Gefangenschaft entgegenzulehnen und um die eigene Widerstandsfähigkeit zu kräftigen.
Bei der Betrachtung des Spiels, speziell des Schachspiels in nationalsozialistischer Gefangenschaft, besonders in den Konzentrationslagern ist zunächst zu fragen, ob nicht eine offensichtliche Unvereinbarkeit vorliegt. Wie passen NS-Regime, Lagerhaft und Vernichtung einerseits und andererseits das Spielen in diesen Verhältnissen zusammen – zumal dann, wenn wir im Spiel, nach landläufigen Vorstellungen, eine Ausdrucksform des gemütlichen Zusammenseins, des Glücks und freudiger Ablenkung sehen. Eine erste Antwort kann uns ein Gemälde von Malvina Schalkova geben: Es zeigt, wie Kinder im Theresienstadt mit einem Leichenwagen spielen. Hier werden beide Extreme mit Hilfe einer Metapher verbunden. Der Leichenwagen symbolisiert die Vernichtung, während die Kinder sich im Spiel in einer Situation des Glücks, in einem Bewußtsein der Lebensbejahung befinden.
Im allgemeinen denkt man bei einem Spiel an eine sorglose Welt des Vergnügens, an eine zweckfreie, nicht zwingend begründete Aktivität, an ein Bild, das nicht oder nur schwerlich mit den Grauen eines Konzentrationslagers oder Ghettos in Einklang zu bringen ist. Daß das Schachspiel und andere kulturelle Aktivitäten innerhalb von Konzentrationslagern nur begrenzt Einzug in das öffentliche historische Bewußtsein gehalten haben, ist nicht weiter erstaunlich, wenn man berücksichtigt, daß viele KZ-Überlebende verständlicherweise Schwierigkeiten hatten, die Greueln des Konzentrationslagers in Worte zu fassen. Sie hatten es ohnehin schwer, sich Gehör zu verschaffen, gegen Desinteresse zu kämpfen, und befürchteten zurecht, daß die Schilderung der Greueltaten durch die Darstellung von kulturellen Aktivitäten in Konzentrationslagern ihre Aussagekraft verlieren könnte.
Kulturelle Aktivitäten wie das Schachspiel und die Realität in Ghettos, Konzentrations- und anderen Lagern können nicht getrennt voneinander betrachten werden; vielmehr findet diese Realität ihren Ausdruck im Spielverhalten und in der Tatsache, Fähigkeiten zu entwickeln, die für das Überleben notwendig waren und sind.[2]
Bei dem Versuch der Darstellung des Schachspiels in Konzentrationslagern muß berücksichtigt werden, daß die Gefangenen auf ihre Erfahrungen im Lager, wenn diese sich in ihre üblichen Lebenserfahrungen einordnen ließen, mit normalen psychologischen Mechanismen reagierten. Der vorgefundene Alltag in den Konzentrationslagern ging jedoch oft weit über die üblichen Lebenserfahrungen hinaus und die entsprechenden Mechanismen griffen nicht mehr. Die Folge war eine Herausbildung neuer psychologischer Mechanismen.
Vom Schachspiel im Lager zu berichten, war nach 1945 für ehemalige Lagerinsassen aus plausiblen Gründen kein vordringlichen Anliegen. Man war primär mit der Erhaltung der physischen Existenz beschäftigt, so daß beispielsweise das Anfertigen von Tagebüchern und Dokumenten nur unter schwierigsten Bedienungen möglich war. Alle Dinge, die nicht der unmittelbaren Existenz galten, wurden von den Fragen des Überlebens in den Hintergrund gedrängt. So erklärt sich die vergleichsweise geringe Quellenlage zu diesem speziellen Thema.
Auch hier muß darauf hingewiesen werden, daß die Ergebnisse, die die Gestapo durch die Lager zu erzielen versuchte, variierten; der Autor konnte folgende voneinander unterschiedene und gleichzeitig eng miteinander verquickte Gestapo-Ziele ausmachen. Die Gefangenen sollten als Individuen gebrochen werden, das heißt, man wollte eine geringfügige Masse aus ihnen machen, aus der kein individueller oder Gruppenwiderstand mehr hervorgehen konnte. [...] Den Männern der Gestapo sollten die KZs als eine Art Exerzierplatz dienen, mit dem Ziel, ihnen alle menschlichen Emotionen und Einstellungen abzuerziehen, und sie die wirksamsten Methoden zu lehren, die eingesetzt werden können, um den Widerstand einer wertlosen Zivilbevölkerung zu brechen. Auch sollten der Gestapo die KZs als Versuchslabor dienen, in denen sie die effektivsten Methoden entwickeln konnten, um zivilen Widerstand zu brechen, [...].[3]
Bereits der Kampf ums Überleben bildete unter solchen Bedingungen eine Form des Widerstandes, da er sich gegen die erklärte Zielsetzung der SS, die physische Vernichtung der Gefangenen, richtete.[4]
Menschenwürde zu bewahren,[5] sich moralische Grundnormen zu erhalten, geistige und kulturelle Interessen nicht verkümmern zu lassen, war eine andere Form des Widerstandes. Jede Art der Verteidigung von Individualität widersprach der Absichten der SS. Die Möglichkeiten und Grenzen einer Widerstandsfähigkeit in den Lagern des NS-Regims waren von vielen Faktoren abhängig: der Art des Terrors der Lagerbesatzung gegenüber den Häftlingen, den im Lager bestehenden Arbeits- und Lebensbedingungen, der Zusammensetzung der Häftlinge und natürlich vom Grad der individuellen physischen und psychischen Konstitution. Daher kann hier nicht von einer Generalisierung der Spiele ausgegangen werden, sondern eher von einem biographisch-individualisierenden Charakter.
Menschen, die in Konzentrationslager eingewiesen wurden, durchliefen in der Regel drei Phasen. Die Einlieferung selbst führte häufig bei den Betroffenen zu einem Aufnahmeschock[6]. Der Grund dafür war, daß die tatsächlich vorgefundenen Begebenheiten oft nicht mit den schlimmsten Befürchtungen übereinstimmten, sondern sie noch übertrafen. Eine positive Verarbeitung dieses Schocks war die Voraussetzung, um sich überhaupt an das Lagerleben anpassen zu können. Gelang dies nicht, war ein völliger Zusammenbruch der Persönlichkeit bis hin zum Selbstmord eine oft Reaktion auf die nicht vollzogene Anpassung.[7] Von großer Bedeutung war in dieser Phase, daß die eingelieferten Häftlinge schnell Kontakt zu Gleichgesinnten im Lager fanden, die die gleiche politische Einstellung hatten, der gleichen Partei angehörten oder das gleiche Hobby ausübten. Es war nur folgerichtig, daß so einer eventuellen Panik entgegengewirkt werden konnte, eine Solidarität geübt und eine gewisse Geborgenheit vermittelt wurde. Die Häftlinge mußten dem Terror etwas entgegenzusetzen haben, und dies fanden sie häufig in der Solidarität untereinander.
Das Schachspiel entwickelte sich in der knapp bemessenen Freizeit zu einem nicht unwesentlichen Kulturfaktor, und das um so mehr, als es unter den Häftlingen eine ganze Reihe ehemaliger Mitglieder des Arbeiterschachbundes gab.[8]
Ganz besonders schwer hatten es Menschen, „die über keine in sich geschlossene Philosophie verfügten, die ihre Integrität hätte schützen und ihnen Kraft zum Widerstand gegen die Nazis hätte geben können“[9].
In der zweiten Phase begann die eigentliche Anpassung,[10] die zu Charakterveränderungen aufgrund der vorgefundenen Verhältnisse führte. Die nicht vorhandene Intimität und der Mangel an persönlicher Freiheit waren dafür mitverantwortlich. Die dritte Phase war das Hinausgehen aus der passiven Rolle und die Akzeptanz des Lageralltags.[11] Nur so war man in der Lage, „bei jeder einzelnen Handlung zu entscheiden, ob sie wirklich für die eigenen Sicherheit oder die der anderen notwendig und ob ihre Ausführung gut, neutral oder schlecht war“[12].
Ein Häftling mußte diese Form der Selbständigkeit erlangen, da sie die psychologische Begründung für den Widerstand beinhaltete. Es gab jedoch Fälle, bei denen die Häftlinge mit dem, was das Lager aus ihnen gemacht hatte, nicht leben konnten und freiwillig in den Tod gingen.[13] Oft war es so, daß Langzeitgefangene die Welt im Lager als einzige Realität betrachteten und das Leben außerhalb des Lagers als nicht mehr gegeben ansahen.
Gefangene,
die sich in der ersten Phase befanden, verschwendeten aus naheliegenden Gründen
keine Gedanken an kulturelle Aktivitäten, doch mußten auch sie sich letztlich
entscheiden, ob sie sich in einen „kulturellen Winterschlaf“[14]
versetzen wollten, primär geleitet, ihre physische Existenz zu erhalten, oder
ob sie sich ihre Persönlichkeit bewahren wollten. Durch den allgemeinen
Tagesablauf, einem 15 Stunden Arbeitstag, sechs Stunden Schlaf, stundenlangen
Appellen und Verrichtung lebenserhaltender Bedürfnisse war häufig an
kulturelle Beschäftigung nicht zu denken. Dennoch gelang auch in dieser
aussichtslosen Situation einigen Häftlingen die Ausübung kultureller Aktivitäten,
teilweise in strengster Illegalität, um in eine Welt ohne Schmerz zu fliehen.
Der Beschäftigung mit dem Schachspiel in Konzentrationslagern, Ghettos und Gefängnissen
kommt somit eine größere Bedeutung zu, als die oberflächliche
Auseinandersetzung mit einem Spiel. Das Spiel enthält eine Dimension, die für
den flüchtigen Beobachter nicht erkennbar ist bzw. die die jetzige Zivilisation
nicht nachvollziehen will oder kann.
Doch im Laufe der Zeit wurde die Tatsache, daß ich meine Selbstachtung durch so sinnvolles Tun entgegen den Bemühungen der Gestapo aufrechterhalten konnte, zu einem wesentlicheren Faktum als es der bloße Zeitvertreib gewesen war. [...] Die einzige Möglichkeit, diese Schwierigkeiten aus dem Weg zu schaffen, bestand darin, daß man seinem Gedächtnis wirklich alles so intensiv als möglich einzuprägen versuchte.[15]
Ähnliches
war den Berichten Klaus Junges zu entnehmen, der als Gefangener in der Deutsch-Haus-Kaserne,
dem Hauptquartier der Gestapo in Nürnberg inhaftiert war. Nach der Beschreibung
der Foltermethoden der Gestapo schrieb er:
Da lag man [...] auf der Pritsche der winzigen Zelle, vor sich einzig den Eimer und das dunkle Fenster. Vier-, fünf-, sechsmal wurde das Verhör durchexerziert, wurden die Antworten für den nächsten Tag vorbereitet. Dann war dieses Thema erschöpft, und die Einsamkeit begann an den Nerven zu zerren. In dieser Situation fing ich an, im Kopf Schachpartien zu analysieren. Für Stunden war alles andere ausgeschaltet, war alles Schwere vergessen, war die zermürbende Leere ausgefüllt.[16]
Die Möglichkeit
des Spiels soll und kann dabei keine Verharmlosung der Machtinstrumente des
Nationalsozialismus widerspiegeln, sie nicht nivellieren, sondern durch das
Schachspiel kann die Unmenschlichkeit des NS-Systems einerseits und der
immunisierende Charakter des Spiels andererseits verdeutlicht werden. Sich
individuell kulturell, sich spielerisch zu betätigen, bedeutete nicht zuletzt
eine Form der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt des Lagers und der
Vernichtung, die als alleinige Wirklichkeit anerkannt war.
Spiel ist etwas Eigenes. Der Begriff Spiel als solcher ist von einer höheren Ordnung als der des Ernstes. Denn Ernst sucht Spiel auszuschließen, Spiel jedoch kann sehr wohl den Ernst einbeziehen.[17]
Dieses Zitat Huizingas beschreibt das Spiel unter normalen Umständen. Im Holocaust mit seinen extremen psychischen und physischen Belastungen kam im Spiel der Ernst der allgemeinen Situation des jeweiligen Inhaftierten zum Ausdruck, der durch das Schachspiel dem Terror in seinem eigenen Mikrokosmos zu entfliehen versuchte. Dies zeigt, daß spielerische Aktivitäten in Lagern und Gefängnissen und die mit ihnen einhergehenden Einstellungen ein Ausdruck der kulturellen, psychologischen und historischen Situation waren. Sie zeigen die entscheidenden Werte einer Gesellschaft, die sich am Abgrund der geistigen und physischen Existenz sah.
Der Großteil der zur Vernichtung vorgesehenen Insassen der Konzentrationslager war gewillt, trotz physischen und psychischen Terrors der Folter Stand zu halten und seine Peiniger und somit das System zu überleben. Der Wille zum Überleben wurde zum alles beherrschenden Thema. Eine mögliche Ausdrucksweise dieses verbissenen, um jeden Preis zu erhaltenden Willens war die Flucht in das Schachspiel. Es wurde zu einer Betätigung, zu einer Initiative des Überlebens, ein Mittel zur Verteidigung des eigenen Ichs, der psychischen und physischen Gesundheit und eine Darstellung des seelischen Widerstandes. Die moralische, geistige und physische Bedeutung des Schachspiels war somit nicht nur in reinem Zeitvertreib zu sehen, sondern besaß einen immunisierenden Charakter gegen den Lagerrealitäten. Es schaffte in einer Zeit, in der die Handlungsfähigkeit des einzelnen stark eingeschränkt war, einen Verteidigungsspielraum. Die Allgemeingültigkeit des Imunisierungscharakters des Spiels, das sei an dieser Stelle angemerkt, ist nicht auf den Nationalsozialismus zu beschränken, sondern reicht über zeitliche und geographische Grenzen hinaus.
Zwar
beschreibt dieses Kapitel vornehmlich das Schachspiel in nationalsozialistischen
Konzentrationslagern, Gefängnissen und Ghettos, doch ist mit Gefangenschaft
nicht nur die direkte, d.h. die Gefangenschaft in einem Konzentrationslager oder
Gefängnis gemeint, sondern auch der widerwillig abgeleistete Dienst in den
verschiedenen Organisationen des Nationalsozialismus wie z.B. in der
Hitlerjugend. Zu diesem Punkt schrieb der Künstler Alfred Hrdlicka, der sich
sowohl mit dem Schachspiel als Sport wie auch als Kunst auseinandergesetzt hat
und in seiner Jugend selbst ein starker Spieler war:
Schach war in der Zeit des Nationalsozialismus für mich eine Art geistiger Selbstbehauptung. Schon mit 13 Jahren wurde ich auf Kosten eines Schulsemesters im Zuge der vormilitärischen Ausbildung in ein Lager gesteckt. Getreu dem Grundsatz ‚Denken tun die Pferde, die haben die größeren Köppe’, war alles auf körperliche Ertüchtigung angelegt; für den gesunden Geist, der sich angeblich in einem gesunden Körper entwickelt, gab es so gut wie kein Angebot. Die politische Erziehung war dermaßen primitiv, daß selbst der Geist des Widerspruchs sich nicht daran entzünden konnte. Drill war alles. In der bescheidenen Freizeit, die uns zugestanden wurde, Kameradschaftsabend hieß das, soweit ich mich erinnern kann, war das Angebot gleichfalls stumpfsinnig, und so fiel es mir gar nicht schwer, unter dem Motto ‚Geistessport’ das Schachspiel als Gegenstück zur Leibeserziehung ein wenig zu propagieren. Die Ausbilder wollten ohnehin ihre Ruhe haben und das Schachlehrbuch, das ich mit mir führte, war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Zu meinem Glück, denn es wimmelte darin nur so von Untermenschen aller Schattierungen: die Juden Steinitz, Lasker, Tarrasch, Rubinstein, Nimzowitsch, Tartakower, Spielmann etc., die Russen Aljechin, Tschigorin, Schiffers, Tolstoi etc., Erbfeinde wie die Engländer Blackburne, Mason, Staunton, der Cubaner Capablanca und der Amerikaner Morphy - Deutschland erklärte in diesen Tagen Amerika den Krieg. Dieses Buch hatte für mich einen enormen Reiz, war es doch ein Stück des Internationalismus, Todfeind des Nationalsozialismus. [...] In diesem Sinn war Schach als Denkschule Vorübung und Vorwarnung für meine spätere Berufsausübung als bildender Künstler, wobei ich feststellen muß, daß die Berufung auf den Zeitgeist sich in der bildenden Kunst vielfach naiver ausnimmt als im Schach.[18]
Den
Lagerkommandanten und Militärgouverneuren war die Bedeutung des Spielens für
die Widerstandskraft eines Menschen durchaus bekannt, nur so lassen sich Erlasse
erklären, die in den besetzten Ländern primär Juden untersagten, Spielplätze,
Schwimmbäder und andere Erholungs- und Kulturstätten zu besuchen. Die
gesellschaftliche Ausgrenzung von Juden aus öffentlichen Anlagen verfolgte das
Ziel, die angebliche Andersartigkeit
der Juden aufzuzeigen und die Bevölkerung auf eine Ausgrenzung der Juden
vorzubereiten. Hier zeigte sich das analytische Denken und das sorgfältige
Planen der Nazis, wenn es darum ging, ihr Endziel,
die Ausrottung der Juden, voranzutreiben. Aus ihrer Sicht war es eine
ideologische Notwendigkeit, alles auszuschalten, was die Lösung der Judenfrage
länger hinauszögerte. Die Verfügung zur Entfernung aller Juden von Spielstätten
bzw. das Verbot, in Konzentrationslagern Schach oder überhaupt irgendwelche
Spiele zu spielen, hatte unter den Maßnahmen der Besatzungsbehörden oder des
Lagerkommandanten daher teilweise primäre Bedeutung. Eine Mutter aus dem
Warschauer Ghetto erinnerte sich:
Mit Absicht hat man nicht einen einzigen Park, nicht einen einzigen Spielplatz oder öffentlichen Garten in das Gebiet einbezogen.[19]
Diese Beschränkungen verstärkten das Gefühl der Isolation und Gefangenschaft, auch wenn berücksichtigt werden muß, daß in den Ghettos im Vergleich zu den Konzentrationslagern zumindest eine gewisse Selbstverwaltung erhalten blieb, die die Verwaltung in den Ghettos nutzte, um kulturelle Aktivitäten und Spiele zu organisieren.[20] In den Satzungen der Selbstverwaltungsgruppen fanden sich mehrere Hinweise, um gerade Kindern durch das Spiel Hilfe zukommen zu lassen:
3. Angesichts dieser unsicheren Zeiten möchten wir unsere Kinder schützen, indem wir sie zu Aktivitäten ermutigen [...]
5. Wir sollten alles tun, um den Kindern Aktivitäten zu ermöglichen, die ihnen ein Höchstmaß an Freude und Glück bieten [...]
11. Wir müssen die Kinder mit Spielen aller Art bekanntmachen.[21]
Für die Erzieher in den verschiedenen Ghettos war das Spiel wichtig, um die Kinder von widrigen Einflüssen fern zu halten, die die körperliche und geistige Gesundheit der Kinder negativ beeinflußt hätten. Auch das Schachspiel wurde als therapeutisches Mittel eingesetzt, damit es bei den Kindern zu einer Erholung von den alltäglichen Strapazen kommen konnte. Es sollte gewissermaßen als Schutzmantel fungieren, als eine kleine Oase des Friedens und innere Mauern gegen die Unbarmherzigkeit der Realität schaffen. Für die Erwachsenen hingegen bedeutete der Bau eines Spielplatzes oder die Organisation eines Schachturniers eine Art Fluchtmechanismus. Die Gemeinschaft konnte so gestärkt werden, und der Anblick spielender, glücklicher Kindern führte zu einer Sinngebung in einer unsinnigen Welt. Der Anblick von spielenden Kinder sorgte bei vielen für „Verwunderung, Begeisterung, Nostalgie [...] und irgendwie war dieser Anblick gut für meine Moral, obwohl ich den schrecklichen Verdacht hatte, daß diese Kinder sterben würden“, schrieb Rudolf Vreba in Auschwitz.[22]
Die
Organisation von Spielen für Kinder durch das Bauen von Spielplätzen und der
Durchführung von Schachturnieren in den Ghettos hatte aber auch gänzlich
andere Gründe. Jugendbanden ohne moralische Führung und physischer Versorgung
trieben im Ghetto ihr Unwesen. Die wachsende Kriminalität, die steigende Zahl
von unproduktiven Kindern rief
bei vielen Selbstverwaltungen der Ghettos die Befürchtung hervor, die
Lagerkommandanten könnten sich dadurch genötigt sehen, alle Kinder und
Jugendlichen gewaltsam entfernen zu lassen. Daher wurde bei der Eröffnung von
Spielplätzen häufig ein Aufruf dieser oder ähnlicher Natur an die
Jugendlichen gerichtet:
Wir rufen euch ferner auf, nicht in den Straßen herumzulungern – ‚verhaltet euch sittsam’. [...] Kinder! Wir sind überzeugt, daß ihr unseren väterlichen Rat befolgen und außerdem eure Verwandten dazu bewegen werdet, gleiches zu tun, denn es ist zu unserem eigenen Vorteil.[23]
Die von den
Ghettobewohnern erstellten Spielmöglichkeiten wurden von einigen
Lagerkommandanten mißbraucht, um dort die Kinder einfach gefangen nehmen zu können
und nicht lange suchen zu müssen. Die Spielplätze und Schachbretter wurden zu
Fallen. Deutsche Behörden machten sich das Verlangen vieler Menschen nach
kultureller Aktivität gar zu nutze und schufen eigens Spielplätze, um die
Kinder aus ihren Verstecken hervorzulocken und dann deportieren zu können.
Viele Kinder wurden so gefaßt. Diese Vorgehensweise sprach sich schnell unter
den Kindern herum:
Ich verstand schon, daß die Deutschen die jüdischen Kinder in dieses ‚Kinderhaus’ locken wollten, um uns dann alle zu erschießen. Alle Kinder sprachen davon.[24]
Eine Frau,
nicht mehr in der Lage, ihre Qualen zu ertragen, charakterisierte ihre Ohnmacht
mit den Worten:
Dies ist kein Leben, es ist ein Schachspiel, bei dem du gleichzeitig mit den Weißen und den schwarzen Figuren spielst.[25]
Das Spielen
nahm unter den sozialen und kulturellen Bedingungen des Holocausts Dimensionen
an, die man normalerweise nicht von einem Spiel erwarten würde. Kulturelle
Aktivitäten „ließen uns für Stunden vergessen, daß Tod und Folter so nahe
waren“[26].
Und weiter hieß es:
Man braucht tatsächlich mehr als Brot, um in Würde zu leben.[27]
Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.[28]
Nur dort, wo der Mensch Vernunft und Sinnlichkeit zwanglos miteinander versöhnt, ist dies gegeben.
In der Ungebundenheit des Spiels kann der Mensch die Affekte der Sinnlichkeit mit den Grenzen der Vernunft in Einklang bringen und so seine Zerrissenheit aufheben.[29]
Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihm von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als auch im Moralischen entbindet.[30]
Viele Menschen, die unter der nationalsozialistischen Tyrannei zu leiden hatten, versuchten, mit Hilfe des Schachspiels den Diskriminierungen des Alltags zu entfliehen, ihrem Menschsein im Sinne von Schillers Ausspruch Rechnung zu tragen. Der Holocaust hatte jedoch Sinn, Zweck und Inhalt des Spiels geändert und ihm eine Bedeutung verliehen, die ihm im ‚Normalfall’ nicht zugeschrieben wurde. Will man den Wert des Schachspiels begreifen, den es für viele Inhaftierte hatte, muß man verstehen, daß das Verhalten der Menschen während ihrer Inhaftierung von drei existentiellen Antrieben geleitet wurde:
- Die Erhaltung des eigenen Lebens,
- die damit verbundene Anpassung an die gegebenen Umstände
- und die Opposition gegen die Unterdrückung.
Es gibt
unterschiedliche Berichte von Inhaftierten aus Konzentrationslagern, die im
Schachspiel eine zeitweilige Ablenkung vom Lageralltag entdeckten. Das
Schachspiel wurde bei vielen zu einer Form des Protests gegen die Folter, zur
Ausübung des geistigen Widerstandes. Natürlich beschränkte sich diese Form
des Protestes nicht allein auf das Schachspiel. Wer andere Mittel zur Verfügung
hatte, um Zuflucht zu nehmen, bemühte diese. Der Psychologe Viktor Emil Frankel
stellte sich während eines Marsches im Winter vor, wie er vor Zuhörern
berichtete, was ihm im Konzentrationslager widerfahren war. Der sich im
Konzentrationslager Auschwitz befindende Jude Primo Levi fand gedankliche Beschäftigung
mit Dantes Göttlicher Komödie,
um sich geistigen Freiraum zu erhalten.[31]
All diesen Menschen, die sich mit einer Beschäftigung ihrer Wahl eine eigene
Realität schufen, war gemein, „daß der Tod, der uns hier täglich und stündlich,
ja jeden Augenblick auf den Fersen ist, nicht meine Gedanken beherrscht. Sonst
falle auch ich ihm zum Opfer“[32].
Diese Wirkung von kulturellen Aktivitäten und Spielen erkannten viele Häftlinge. Dabei war es nicht entscheidend, ob ihnen ein Gedicht, ein Fachbuch oder eine Partie Schach jenen Halt bot, den sie suchten. Sehr eindringlich formulierte es Jindrích Flusser, der bei der Evakuierung aus Auschwitz ein Buch auf den Todesmarsch zum KZ Groß Rosen mitgenommen hatte:
Dort, im Morast, in einer nicht fertiggestellten Baracke liegend, nahm ich das Buch und las drei Seiten. Es war wie eine innere Demonstration.[33]
Das Buch
bedeutete für Flusser, dem Terror weiterhin Widerstand entgegensetzen zu können.
Gefangene im Emslandlager Börgermoor waren sich ebenfalls der mutmachenden Wirkung kultureller Aktivitäten bewußt. In einer Zeit, in der die Terrormaßnahmen der SS immer extremer wurden und viele Inhaftierte den Freitod als Ausweg wählten, gingen einige Häftlinge durch die Lager und organisierten den sogenannten Kulturabend, an dem etwas gespielt und gesungen wurde. Sie organisierten gar eigens eine Zirkusvorstellung und kündigten sie mit dem Namen Zirkus Konzentrazani an. [34] Wolfgang Langhoff schrieb über die Veranstaltung und ihre Wirkung auf die Gefangenen:
Wir, die wir nicht mehr das Leben von Menschen führten, hatten
es gewagt, für einige Stunden über uns selbst zu bestimmen, ohne
Befehle, ohne Anweisungen, ganz so als ob wir unsere eigenen
Herren wären und als ob so eine Einrichtung wie
Konzentrationslager nicht existiert![35]
Karl August
Wittfogel, der 1933 bei dem Versuch, illegal in die Schweiz zu gelangen, gefaßt
wurde, berichtete über den sonntäglichen Tagesablauf im Emslandlager
Esterwegen und über die verschiedenen Spiele, unter ihnen auch das Schachspiel,
die nur an diesem Tag ausgeübt werden durften:
Überall in den Baracken drängen sich Gefangene um das Schachbrett, Spielende, die ernsthaft über den vierundsechzig Feldern brüten, und Zuschauer, die nicht minder ernst den Zügen des Spiels folgen. Karten spielen sowohl die Gefangenen als auch ihre Wächter. Das Schachspiel indessen beschäftigt nur Häftlinge. In ganzen Ketten von Wettkämpfen messen sie ihre Kräfte.[36]
Zu den Besonderheiten der Emslandlager gehörte, daß sie laut offizieller Propaganda der Nationalsozialisten neben den bekannten Inhalten von Konzentrationslagern noch weitere Aufgaben zu erfüllen hatten. Mit ihnen sollte das Moor urbar gemacht werden, damit Siedlungsland erschlossen werden konnte.
Das
Emslandlager in Esterwegen wurde außerdem von der SS als Ausbildungslager für
ihre aufstrebenden Offiziere benutzt. Ohnehin galten viele Konzentrationslager
als Übungsplätze für das, was später von diesen Offizieren als Herrscher in
den eroberten Ländern erwartete wurde. Die Lager waren Versuchslabore, in denen
Methoden entwickelt werden sollten, um aufsässige Menschen gezielt zu unterdrücken,
sie gezielt zu brechen. So wurde in den Lagern peinlich genau darauf geachtet,
daß sich jeder Inhaftierte einer Haftgruppe zuordnen mußte, damit er als
Individuum nicht mehr funktionierte. Weitere Belege hierfür sind die eingeführte
Sippenhaft, damit die Gruppe bestraft wurde und nicht der Einzelne, was eine
Individualität bedeutet hätte. Individuelle Bestrafungen sollten vermieden
werden. Daß dies nicht immer so gehandhabt wurde, findet teilweise in der Willkür
der Lagerbesatzung seinen Grund. Die vorgeschriebene Gruppennorm sollte
eingehalten werden, so daß es dem Einzelnen nicht ermöglicht wurde,
individuell etwas zu unternehmen, da er sonst seinen Widerstand besser hätte
ausprägen können.
Es war einfacher, dem Druck der Gestapo und der Nazis zu widerstehen, wenn man nach wie vor als Individuum funktioniert. Das aber schien die Gestapo zu wissen, und so schloß sie alle Individuen zu Gruppen zusammen, die sie überwachen konnte. [...] Einzelgängertum und individuelles Handeln wurde so weit als möglich unterbunden, und so fort. Das Konzentrationslager war das Versuchslabor der Gestapo, in dem sie nicht bloß freie Menschen, sondern vor allen Dingen die leidenschaftlichen Gegner des Nazi-Systems in einen Prozeß hineinzwangen, der zur Desintegration der Persönlichkeit des autonomen Menschen führte.[37]
Gefangene,
die sich für das Schach entschieden hatten, um sich ihren geistigen Freiraum
und einen Teil ihrer Individualität zu bewahren, sahen sich immer wieder vor
das Problem gestellt, ein Schachbrett mit Figuren zu organisieren. Die Not der
Inhaftierten trug jedoch immer wieder neue, erfinderische Früchte. Sie
fertigten Figuren aus Papier, Stroh, Brot oder Holz. Als Schachbrett diente häufig
der Fußboden, Tische oder Decken.
Sehr einfallsreich waren die Gefangenen im Warschauer Gefängnis Pawiak zur Zeit der deutschen Besatzung. Schach zu spielen war verboten, und dennoch gelang es den Gefangenen, ihrer Leidenschaft nachzugehen. Sie fertigten Figuren aus Brot und als Schachbrett diente ein aus Asche bestehendes Muster auf dem Boden. Kam es zu einer Kontrolle wurden die Figuren einfach aufgegessen und das Brett weggeblasen.[38] Klaus Junge, inhaftiert im Nürnberger Zellengefängnis, arbeitete in der Konfektionsschneiderei und bastelte sich aus verschiedenfarbigen Stoffen ein Schachbrett. Die Figuren bestanden ebenfalls aus selbstgenähten Stoffstücken.[39] Aus den Dokumenten und der Literatur des Dokumentations- und Informationszentrums Papenburg (i. f. DIZ) gehen Berichte hervor, die über die Anfertigung und Funktion von Schachspielen Aufschluß geben können. Durch die Arbeit der Inhaftierten im Moor gelangten sie an Materialien und Holzwerkstoffe wie Mooreiche, die sie für die Herstellung von Schachfiguren und Brettern benutzten.
Große Beteiligung und ein gutes Niveau hatten die Lager-Schachwettkämpfe. Zuerst wurden die Barackenmeisterschaften ausgespielt, danach erfolgte der Kampf der Barackenmeister um die Lagermeisterschaft. Zur Ehre muß auch gesagt werden, die meisten Kommunisten spielten Schach. Und alles mit selbstgebauten Schachbrettern und Figuren. Die Schnitzarbeiten waren ebenfalls verbreitet als Freizeitbeschäftigung. Wir hatten dazu besonders gutes Material und zwar den Rohstoff ‚Mooreiche’. Durch die Lagerung von tausenden, oder auch 10.000 Jahren im Moor erhält die Eiche jenen tiefschwarzen Glanz nach dem Rohpolieren.[40]
Willi
Dickhut, Insasse des Lagers Esterwegen, fand im Schachspiel ebenfalls
zeitweilige Zerstreuung. Sowohl durch das eigentliche Spielen, als auch durch
die Herstellung der dafür notwendigen Figuren:
Theo und ich haben viel miteinander diskutiert und Schach gespielt. So nahm ich im Lager das Schnitzen wieder auf, um Schachfiguren herzustellen. Andere hatten das auch getan und Figuren in kubischer Form gemacht. Die waren mir aber zu plump. Ich dachte mir besondere Formen aus, die die Zugregeln für die verschiedenen Schachfiguren andeuten sollten, z.B. ein Bauer als einfachen Zug vorwärts, ein Turm nur in gerader und seitlicher und der Läufer nur in schräger Richtung, beim Springer den Sprung. Die Dame bekam alle Zugregeln außer der des Springers angedeutet. Kameraden, die in der Schreinerei beschäftigt waren, besorgten mir die maßgehobelten Vierkanthölzer aus Birke; daraus schnitzte ich an mehreren Abenden die Figuren. Mit diesen Figuren haben Theo und ich manches Spiel ausgetragen.[41]
Der Insasse
des KZ Börgermoor, Max Hoffmann, stellte dem DIZ
im Oktober 1996 ein von seinem Mitgefangenen Genossen Wilhelm Stange aus
Mooreiche angefertigtes Schachbrett mit Figuren zur Verfügung. Die Figuren, vor
allem die Läufer und Bauern erinnern stark an Lagertürme, die rund um das KZ
verteilt waren, um eventuelle Fluchtversuche zu vereiteln. Ob dieser Eindruck täuscht
und die Form der Figuren nur aus gestalterischen Gründen bzw. aus
herstellerischer Einfachheit gewählt wurden, muß Spekulation bleiben.[42]
Frau Helga Hoffman schrieb in ihrem Brief an das DIZ bei der Übergabe des
Schachbretts für die Dauerausstellung:
Dieses Schachspiel wurde von dem Rostocker Genossen Wilhelm Stange angefertigt. Die Schachfiguren hat er aus Mooreiche geschnitzt. Max Hoffmann (mein Mann), der zusammen mit Wilhelm Stange als politischer Häftling und Gegner des Nazi-Regimes im Börgermoor eingesperrt war, hatte es nach seiner Haftzeit mit nach Hause gebracht. Die Anfertigung dieses Schachspiels und seine Benutzung im Lager sind ein Zeichen dafür, daß die Moorsoldaten trotz schwerster Haftbedingungen ihren Lebenswillen nicht aufgaben und versuchten, nach Möglichkeit ihre Lebenslage zu erleichtern.[43]
Es befindet sich noch ein weiterer Figurensatz zusammen mit seiner Schatulle in der Dauerausstellung des DIZ. Die Figuren wurden von Helmut Behrendt hergestellt. Am 6. März 1935 wurde er in Berlin als Funktionär der illegalen Roten Sportbewegung zu 7 Jahren Zuchthaus verurteilt. Zu Beginn seiner Gefangenschaft kam er nach Luckau, von dort nach Brandenburg/Havel und mit dem Beginn des Jahres „1939 kam er ins Moor nach Papenburg an die holländische Grenze, auch hier mußte er alle Schrecken eines Moorsoldaten erleiden“[44].
Der Deckel der Schatulle für die Schachfiguren enthält das eingeschnitzte Zeichen des Lagers Börgermoor. Helmut Behrendt wurde nach seiner Verbüßung von 7 Jahren Zuchthaus in das KZ Sachsenhausen überführt. Von dort aus kam er zusammen mit 15000 Häftlingen in das Lager Ebensee am Traunsee, wo er durch die Amerikaner befreit wurde. Nach 1945 wurde er Mitarbeiter beim Berliner Hauptsportamt und war von 1951 bis 1973 Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees der DDR und seit 1948 ehrenamtlich Vizepräsident des Deutschen Fußballverbandes der DDR.
Es gab jedoch auch Berichte von Gefangenen, die mit dem Schachspiel unangenehme Erfahrungen als Inhaftierte verbanden. Hans Drozd, Gefangener im Emslandlager Börgermoor, teilte mir in einem Brief mit:
"Ich persönlich habe mit dem Schachspiel eine sehr unangenehme Erfahrung machen müssen: Es war an einem Sonntag, an dem ein für uns ausgehungerte Häftlinge großes Festessen auf dem Programm stand: Erbsensuppe. Nachdem wir dieses delikate Mahl verzehrt hatten, dösten wir mit unsren ungewohnt vollen Mägen an den langen Tischen in der Baracke. Ich vermeinte meinen Ohren nicht zu trauen, als ich plötzlich die Stimme des Blockältesten vernahm: ;Ist hier ein Schachspieler, so, daß er auch spielen kann?‘ Sofort durchfuhr mich ein Gedanke: Wenn ich spiele bekomme ich vielleicht einen Zuschlag zum Essen, und ein Essenszuschlag war damals gleichbedeutend mit Leben. Ich meldete mich also mit der Bestimmung mein Bestes geben zu wollen. Was ich auch tat. Ich war in meiner Euphonie angesichts der zu erwartenden Belohnung jedoch zu wenig psychologisch vorgegangen. Mein Herausforderer hatte zwar großtuerisch nach einer interessanten Partie verlangt, doch die Schmach einer Niederlage wollte er nicht auf sich nehmen. Nur die Erbsensuppe vor Augen erkannte ich die Situation zu spät. Als sich abzeichnete, daß mein Gegenüber als Verlierer hervorgehen würde, fühlte er sich in seiner Eitelkeit dermaßen verletzt, daß er nur einen Ausweg sah: rohe Gewalt. Er schmetterte mir das Schachbrett derart heftig auf den Kopf, daß die Figuren nur so in der Gegend herumsplitterten. An meine damalige Reaktion kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Heute weiß ich jedoch, daß es in der Macht dieses Mannes gestanden hätte, über mein Leben oder meinen Tod zu entscheiden. Außer einer blutenden Wunde sollte dieser Vorfall jedoch keine weiteren Konsequenzen für mich haben."[45]
Hans
Drozd ist nur diese, für ihn unangenehme Begebenheit mit dem Schachspiel in
Gefangenschaft in Erinnerung geblieben. Er hat in seiner Auseinandersetzung mit
der Realität des Lageralltags den Fehler begangen, das Schachspiel nicht den
gegebenen Umständen anzupassen. Das Schachspiel erfüllte bei ihm nicht den
Zweck, der Realität durch die geistige Überwindung der Lagermauern zu
entfliehen, sondern sollte ihm einen zusätzlichen Teller Erbsensuppe bescheren.
Doch berücksichtigte Hans Drozd nicht, gegen wen er spielte. Diese Fehleinschätzung
im Umgang mit dem Schachspiel als Auseinandersetzung mit der eigenen
Inhaftierung hätte auch tödlich enden können. Das Spiel wurde von ihm nicht
der Realität angepaßt, entweder durch seine Überwindung oder für einen
Teller Erbsensuppe, der Leben bedeutete. Wie diplomatisch Häftlinge sein mußten,
wenn sie von Aufsehern zu einer Partie Schach aufgefordert wurden, berichtete
auch Georg Klaus aus dem Konzentrationslager Dachau:
SS-Hauptscharführer
Lüttkemeier, einer der übelsten Burschen, pflegte den Häftlingen Haarstoppeln
mit der Beißzange auszureißen, wenn sie ihm zu lang erschienen. Da gingen
jedesmal Stücke von der Kopfhaut mit. Außerdem hatte er eine verrückte
Angewohnheit: Er fuhr mit dem Fahrrad durch die Baracke von einem Ende zum
andern, wobei wir ihm überall die Türen aufreißen mußten. Dann verlangte er
Schach zu spielen. Er blieb auf dem Rad sitzen, lehnte sich an einen Tisch und
holte sich Leute heran, die er kannte. Verlor der Häftling aus Vorsicht bewußt
gegen ihn, dann gab es Ohrfeigen: ‚Du Schwein, warum hast du nicht besser
gespielt!‘ Sah er sich dagegen geschlagen, so warf er wütend die Figuren um,
fuhr weg und war verschwunden. Wehe dann der unglücklichen Baracke, die er
danach aufsuchte.
Das
Gegenstück zu Lüttkemeier war der Hauptscharführer Dammbach. Der gab sich
gern als kultivierter arisch-germanischer Edelmensch und tat sich viel auf seine
Beherrschung zugute. Er pflegte die Häftlinge nicht niederzuschlagen oder ihnen
mit dem Stiefel in den Leib zu treten. Während Lüttkemeier seine Wut
abreagierte und wegging, schrieb Dammbach alles säuberlich in sein Buch – das
bedeutete fünf Stunden Strafarbeit nach Dienstschluß, und zwar sechs Wochen
lang. Das war die Dammbach-Art. Für uns war es wichtig, körperlich schwache
Genossen von der Strafarbeit zu befreien. Das gelang durch ‚psychologische‘
Schachpartien, in denen dem SS-Mann das Gefühl seiner Überlegenheit nach Bruch
harten feindlichen Widerstandes suggeriert wurde. In solcher Siegerlaune war er
geneigt, drei Wochen Strafarbeit für einen ‚anständigen Kerl‘ zu erlassen.
Er ließ sich sogar herab, für eine Partie mit einem ausgesuchten Gegner Tabak
– für uns nach Lager der Dinge ein wichtiger Artikel – als Preis
auszusetzen. Da verlor dann der Häftling die erste Partie, dann gab es ein
Remis, dann verlor der Häftling noch einmal. Allmählich aber neigte sich das
Schicksal gegen alle Regeln der Vorsehung auf die Seite des Häftlings. Dammbach
kam nie dahinter, zumal ihm der Gewinner die bittere Pille überzuckerte:
‚Hauptscharführer haben eben Pech gehabt. Wenn Sie den und den Zug nicht
gemacht hätten, hätte ich natürlich verloren.‘[46]
Ernst Walksen setzte sich zeichnerisch mit dem Schachspiel in den Konzentrationslagern auseinander Er zeichnete als Insasse des Strafgefangenenlagers Esterwegen und Aschendorfermoor den Lageralltag so, wie er ihn sah. Unter seinen Bildern befindet sich eins von schachspielenden Menschen, denen interessiert von Mithäftlingen beim Schachspiel zugesehen wird.[47]
Im Konzentrationslager Bergen-Belsen gab es wie im Konzentrationslager Börgermoor kein Schachverbot. Dort hatte jemand 1944 versucht, einen Brief herauszuschmuggeln. Der Lagerkommandant und SS-Hauptsturmführer Josef Kramer - auch bekannt als die Bestie von Belsen - hatte daraufhin zur Strafe drei Tage lang die Austeilung der Essenrationen untersagt. Barry Spanjaard, ein amerikanischer Teenager und Gefangener in diesem Konzentrationslager, versuchte, seinen Hunger durch die Ablenkung des Spielens zu vergessen. Zur Erfüllung dieses Zwecks war er bereit, einen Teil seiner ohnehin schon nicht ausreichenden Essensration gegen ein Schachbrett zu tauschen, in der Hoffnung, so in eine Phantasiewelt eintauchen zu können.
I
tried to figure out how to get through the next few days. What could I do to get
my mind off food? Then I got an idea; there was a fellow in my barrack who had a
chess set. I went over to him and asked him if he wanted to sell it to me. Of
course, I couldn’t buy it with money; there wasn’t any, and money was unless
here. I managed to talk to him into selling me his chess set for two rations of
bread, which meant that I wasn’t able to get bread for FIVE WHOLE DAYS. I had
my reasons. I took the set to my bunk, and for the next three days I did nothing
but play chess with my friend, Walter. We concentrated on the game so intensely
that we forgot all about our hunger, so the days went by quickly. The other
people weren’t as fortunat as I.[48]
Mit Hilfe
des Schachspiels gelang es dem Jungen, aktiv seiner Unterjochung und der primären
Bedrohung seines Lebens zu begegnen. Der Protest durch das Spiel versetzte ihn
in die Lage, einen Damm errichten zu können gegen die Realität und eine Brücke
zu bauen, die ihm über die Realität hinweg half. In dieser durch die
Nationalsozialisten geschaffenen Welt des Terrors war man immer wieder mit
ungewohnten Dingen konfrontiert, daher mußten die Opfer dieses Terrors immer
wieder nach Möglichkeiten Ausschau halten, ihnen zu begegnen, um das eigene
Gleichgewicht wieder herzustellen und zu versuchen, den Begebenheiten zu
entfliehen. Gerade bei denen, die inhaftiert waren bzw. sich vor dem Regime
versteckt halten mußten, konnte dies zu einem Problem werden. Ein Junge, der
sich mit seiner Familie zwei Jahre lang in einer Grube unter einem Stall
versteckt hielt, immer in der Angst, entdeckt zu werden, fand nur im Lesen und
im Schachspiel eine willkommene Abwechslung, um der Eintönigkeit, dem Gestank
und der Erstickungsgefahr zeitweilig Paroli zu bieten.
Die Frage der seelischen Ausdauer war nicht minder bedeutend als unsere körperliche Widerstandskraft. Das wichtigste Problem war, eine Beschäftigung zu finden [...] Die andere Beschäftigung war Schach. Wir spielten fast den ganzen Tag, was nicht nur für die Spieler, sondern auch für die Kiebitze eine Anregung bot. Um die Spiele reizvoller zu machen, spielen wir um Einsätze, um eine Kartoffel oder ein Löffel Suppe, denn das kostbarste war für uns die Nahrung. Wer verlor, mußte auf einen Teil seines Essens verzichten, und wir kämpften mit erbitterter Entschlossenheit. [...] Vater [...] sah uns beim Schachspielen zu und verlegte sich darauf, Figuren zu entwenden oder umzustellen. Das führte zu Streitigkeiten und Diskussionen, die uns halfen, die Zeit totzuschlagen - ein unschätzbarer Gewinn [...][49]
Daß es zu
einer starken Affinität zwischen Bewältigung und unbedingtem Überlebenswillen
im Holocaust kam, erschien nur logisch. Richtig verständlich wurde die
Verbindung zwischen dem Schachspiel und dem physischen und psychischen Terror
des Nationalsozialismus in der Tat erst durch den Überlebensgedanken, durch das
Bemühen des Opfers, seinen Peiniger zu überleben. Durch das Schachspiel äußerte
sich der Wunsch, am Leben zu bleiben.
Ich war nahe daran, laut aufzuschreien und verrückt zu werden. Es war kaum auszuhalten, aber ich hatte eine lebhafte Phantasie. Man muß, glaube ich, Phantasie haben, um zu überleben.[50]
In
isolierten Zellen, in denen der Kontakt zu anderen Häftlingen verboten war,
verständigte man sich häufig durch eigens konzipierte Schach-Klopfzeichen
und war so in der Lage, die Isolationshaft durch die Austragung einer Partie
Schach zu ertragen. So erging es dem Gefangenen Kreibel des Konzentrationslagers
Fuhlsbüttel, der über seine Entlassung aus der Einzelhaft schrieb:
Kreibel hat sein Zeug zusammengepackt. Das aus Klosettpapier verfertigte Schachspiel knistert in der Hosentasche. Er wirft einen flüchtigen Blick auf die Wand, hinter der Ernst Rüsch liegt. Vorbei sind die Klopfunterhaltungen, die erst nach so langen Bemühungen zustande kamen. Vorbei ist das Schachspielen, das ihre letzten Tage ausgefüllt hat...[51]
Wenn selbst eine Verständigung durch Klopfzeichen nicht möglich war, und die Einzelhaft ihrem Namen alle Ehre machte, bettete sich das Schachspiel häufig in jene unscheinbaren und dennoch so wichtigen Begebenheiten des Tagesablaufes eines Häftlings ein, die ihm halfen, nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Folgende Textstelle eines Insassen desselben Konzentrationslagers, der sich fünf Monate in Einzelhaft befand, belegt dies:
Wie gesagt: Trostlos! Sechs Schritte hin - sechs Schritte zurück - und das tausend Mal;
dann zeigte mir die Turmuhr der Anstalt an, daß wieder eine halbe Stunde meiner wahrscheinlich jahrelangen Haft vergangen war. Für Ohren und Augen bot der nahe Flughafen wenigstens etwas Unterhaltung. Im Kopf stellt ich mir mathematische und andere Aufgaben. Manchmal schmuggelte meine Frau mir mit der Wäsche eine Drei-Zug-Schachaufgabe zu, die ich dann ebenfalls im Kopf löste. Ich studierte die Lande- und Starttechnik der Stubenfliegen an den Wänden meiner Zelle. Im Herbst krochen die Kohlweißlings-Raupen an den Scheiben meines Zellenfensters empor zum Verpuppen; ich setzte die Raupen von innen an die Scheibe und ließ sie Wettkämpfe austragen.[52]
Der
Widerstand fand sich thematisiert im Schachspiel, das kompensatorisch den Streß
beseitigte und den Insassen half, sich auf ihre gepeinigte und traumatische Lage
einzustellen.
Sehr detailliert sind die Berichte über das Spiel eines ehemaligen Häftling des Todeslagers Sachsenhausen namens I. Heifetz. Die sowjetische Untergrundbewegung veranstaltete im März 1943 eine Seance von Simultanpartien, an der auch der Moskauer Schachmeister Sergej Bogdanow teilnahm. Zerstreuung war nicht das primäre Ziel dieser Simultanveranstaltung, vielmehr ging es darum zu zeigen, daß Zwangsarbeit, Mißhandlungen und auch der Hunger nicht imstande waren, „die Menschen zu brechen“[53]. Die Organisation einer solchen Veranstaltung erforderte einen sehr großen Aufwand. So mußten die in den Tischlereien beschäftigten Gefangenen bei der Herstellung der Figuren darauf achten, daß sie nicht dabei ertappt wurden. Sodann mußten die Figuren in die Baracke geschleust werden, in der die Simultanveranstaltung stattfinden sollte. Erst als vor der Baracke noch Sicherheitsposten aufgestellt waren, die die Ankunft von SS-Männern signalisieren sollten, konnte die Veranstaltung beginnen. Da Bogdanow haushoch gewann und sich die Nachricht von einer durchgeführten Simultanveranstaltung auch in den anderen Baracken herumgesprochen hatte, kamen reihenweise Spieler, um sich mit dem Sieger zu messen. Die von den Häftlingen angefertigten Figuren verließen nicht selten das Lager und wurden von der umliegenden Bevölkerung für Lebensmittel eingetauscht. So besiegte man den Hunger nicht nur indirekt durch das Eintauchen in seinen eigenen Mikrokosmos, sondern auch direkt, durch den Handel von Figuren gegen Brot.
Wie mir Dr. Winfried Meyer, Mitarbeiter der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen mitteilte, ist dort im Depot ein von einem sowjetischen Kriegsgefangenen aus Brot hergestelltes Schachspiel vorhanden, das er einem als Pfleger im Krankenrevier arbeitenden Häftling als Zeichen seiner Dankbarkeit für dessen Hilfsbereitschaft geschenkt hatte.[54] Überdies teilte mir Dr. Meyer mit, daß das Schach auch für die Internierten bzw. Strafgefangenen in dem sowjetischen Speziallager Sachsenhausen von 1945-1950 eine große Rolle gespielt hat. Laut Lagerordnung waren ausschließlich nur Schach und andere Brettspiele erlaubt. Dort sollen gar regelrechte Schachmeisterschaften stattgefunden haben. Figuren und Bretter wurden ähnlich wie schon aufgezeigt selbst gefertigt. Bestätigt wird dies durch die Briefe eines Insassen an seine Familie:
Zwischendurch wird dann rasch mal eine Partie Schach gespielt, um den Geist anzuregen. Ich habe es (innerhalb der Baracke) zum viertbesten Spieler gebracht und bei einem Turnier einen Figurensatz als Preis gewonnen.[55]
Mit aus Brotkrümmeln hergestellten Figuren wurden die berühmten Partien von Schachmeistern nachgespielt, um die eigene intellektuelle Widerstandskraft zu stärken. Für die Insassen kam die Beschäftigung mit dem Schachspiel einer Auffrischung des Gehirns gleich, bedingt durch die ständige Denkdisziplin.[56] Die Sensibilität vieler Menschen in den verschiedenen Konzentrationslagern, ihr Intellekt und ihre Kultur unterlagen dennoch häufig dem rücksichtslosen Ungeist des Nationalsozialismus. Wie konnte sich in einer solchen Situation, bar jeglicher Hoffnung, das Schachspiel als ein Zeichen der Humanität etablieren?
Der Nationalsozialismus hatte eine Umwelt geschaffen, in der traditionelle Werte und Normen nicht mehr galten, sie erhielten eine neue Form und einen neuen Inhalt. Das Schachspiel war der Ausdruck eines verzweifelten Bemühens, sowohl in physischer als auch psychischer Form den Opfern des Holocausts zu einem gewissen Gleichgewicht zu verhelfen. So konnte man sich teilweise das Gefühl geben, der Herr seines eigenen Schicksals zu sein, Selbstbestimmung und Willensfreiheit behalten zu haben. Dieses Flüchten in eine andere Realität zeigte sich deutlich in den Worten eines Mädchens des Warschauer Ghettos:
Wenn ich beim Spielen bin, vergesse ich meinen Hunger. Ich vergesse sogar, daß es draußen so böse Deutsche gibt. Frühmorgens eile ich in den Kindergarten, und ich wünschte, der Tag würde nie enden, denn wenn es dunkel wird, müssen wir alle nach Hause. Mein Zimmer ist voll von dunklen Schatten und düsterer Furcht.[57]
Wie diesem Mädchen muß es vielen gegangen sein, die es schafften, in eine Welt des Spiels hinabzutauchen und die Leiden des Alltags zu vergessen. Im Schachspiel fand sich eine existentielle Auseinandersetzung mit der Normalität.
Das tragenden Symbol des Schachspiels war für viele Inhaftierten seine Phantasie, seine Kreativität, sein Geist und die Tatsache, daß es einen dem Alltag entfliehenden Charakter besitzt. Für die gleichen Inhaftierten waren die Gefühle bezüglich des Schachspiels jedoch abermals gespalten. Einerseits war es ein Mittel zum Überleben der Haft, andererseits aber gleichzeitig ein Symbol für den begrenzten Raum der Zelle, des Gefängnisses, der eiskalten und berechnenden Logik des Nationalsozialismus. Wie jedes Spiel ist auch das Schachspiel durch die Wiederholung der vorgegebenen Regeln regressiv. Jedes Spiel ist nur dann möglich, wenn die Regeln strikt eingehalten werden und sich alle Spieler ihnen unterwerfen.
Ein eben in der Freiwilligkeit höchst unfreier Zustand.[58]
Die Macht der Spiele war begrenzt. Die kulturellen Aktivitäten konnten keine dauerhafte Mauer gegen den Terror errichten. Kurze Momente des Glücks konnten dem permanenten Elend nicht begegnen. Eine Erleichterung des physischen Elends war durch das Schachspiel nur minimal gegeben. Der ausgehungerte Körper und das Leid schwächte die Physis so sehr, daß auch der Geist durch sein Entfliehen in eine andere Realität keinen Schutz mehr bieten konnte. Der niederländische Chronist von Westerbork, Philip Mechanicus, schrieb über eine solche Situation, in der es direkt um das Überleben in einem Konzentrationslager ging:
Der Schachwettbewerb ist völlig gescheitert und vergessen, erstens, weil die Beteiligten auf Transport mußten, und zweitens, weil die Gedanken der Menschen fast nur noch um die Aufhebung der Freistellung von der Deportation kreisten.[59]
Das Spiel hatte seine Grenzen. Dennoch waren die Spiele eine Reaktion, um der traumatisierenden Situation mit einer Art Fluchtmechanismus zu begegnen.
Dieses Gefühl der Distanziertheit oder Abgelöstheit war ein Versuch, die Realität der Situation, in der sich die Gefangenen befanden, zurückzuweisen, und es kann als ein Mechanismus betrachtet werden, der das Ziel hatte, die Integrität der Persönlichkeit der Betroffenen zu bewahren.[60]
Mit Hilfe des Schachspiels entwickelten sich Mechanismen, die es den Menschen ermöglichten, sich ihrer negativen Erfahrungen zu entledigen, sich der neu geschaffenen Situation anzupassen und zu assimilieren.[61] Es ist offensichtlich, daß das Schachspiel in der Gefangenschaft des Nationalsozialismus ausgeprägtere funktionale Eigenschaften besaß. Es war sowohl die Bewältigung als auch die Herbeiführung einer gewissen seelischen Stumpfheit.
Was bedeutete das Spiel? Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich habe es wohl schon gesagt: Es vertauschte Phantasie und Realität, so daß wir zumindest versuchen konnten zu überleben.[62]
In der Beschäftigung mit den verschiedensten Dingen versuchte der Gefangene, „sein Ich so zu erhalten, daß er, wenn er das Glück hätte, seine Freiheit wiederzuerlangen, in etwa die gleiche Person sein würde, die er vor seiner Freiheitsberaubung gewesen war“[63].
Das Schachspiel als kulturelle Aktivität war somit ein wichtiges Mittel im Überlebenskampf. Denn angesichts der Lebensbedingungen in den Konzentrationslagern war es nicht das Sterben, sondern das Überleben, was einer Erklärung für den Außenstehenden bedurfte. Schach war dabei ein Mittel „sich dem gefährlichen Prozeß der völligen Depersonalisierung zu widersetzten und die eigene Identität zumindest partiell zu wahren. Kultur bedeutete, für einen kurzen Augenblick das Bewußtsein zu haben, Subjekt der eigenen Geschichte zu sein, Kultur bedeutete nicht zuletzt das Festhalten an Werten, deren überzeitliche Gültigkeit sich auch der Gewalt der SS entzog“[64].
Spiele
konnten Tod und Elend nicht überwinden, sie konnten jedoch helfen, das Grauen
zu ertragen. Sie wurden zu einem Medium, den Anforderungen des Überlebenskampfes
gerecht zu werden und wurden im Alltag der Opfer des Nationalsozialismus zu
einem integralen Bestandteil ihrer Aktivität. Durch das Spiel konnten die
Gefangenen ihre Gefangenschaft nicht beenden, doch mit schachspielerischer
Phantasie konnte sie sie ertragen. Über die philosophischen und psychologischen
Aspekte des Schachspiels schrieb Siegfried Unseld nach der Darstellung des
Unmenschlichen als Einseitigkeit im Nationalsozialismus, daß die „Philosophie
des Schachs zur Philosophie des Lebens [wird]. Wer monomanisch einseitig ist,
vermag in sich die Kräfte seines Selbst nicht zu wecken und zu entfalten. Wer
sich nur auf eine Sache konzentriert, kann sich, kann sein Selbst nicht lieben.
Und nur wem es gelingt, diesen Schritt zu machen, sein Ich anzunehmen, sein
Selbst zu lieben, dem wird auch das Wichtigste gelingen, dieses Selbst durchlässig
zu machen für den Anderen, für den Mitmenschen, für die Gesellschaft. Von der
Möglichkeit solcher Zuwendung wird auch in der Zukunft vieles abhängen. Im
ersten Spiel mit den Partner beim Schach kann solche Zuwendung erfolgen; der,
der Schach spielt, erfährt es immer wieder“[65]
Viele Spiele
halfen den Menschen, in den Konzentrationslagern zu überleben, das Schachspiel
war nur eins von ihnen, doch geradezu prädestiniert. Es war leicht
herzustellen, bedurfte nur wenigen Platzes und konnte alleine durch Analysen
seinen Wert beweisen.
Die
Nationalsozialisten versuchten u.a. mit der Artikelserie von Alexander Aljechin
über das jüdische Schach, das Schachspiel für ihre Zwecke zu vereinnahmen.
Das Schachspiel ist für diesen Zweck, auch im Hinblick auf das Zitat von
Siegfried Unseld und dem geschilderten Umgang von Inhaftierten mit dem Spiel
dazu gänzlich ungeeignet. Es ist vielmehr ein friedlicher Wettstreit mit
gleichen Chancen, eine Auseinandersetzung zweier Individuen unabhängig von
Rasse, Kultur und Auslesegedanken und somit im Widerspruch stehend zur
nationalsozialistischen Ideologie und der von ihnen vor allem durch die
Artikelserie des Alexander Aljechin gezeigten Betrachtungsweise des Schachs? Es
ist nicht dazu geeignet eine arische Rasse in den Kampf gegen die jüdische zu führen.
Das Schachspiel bildet gerade durch seine Individualität eine Art
Immunisierungsfaktor gegen die Vereinnahmung von Regimen, wie Berichte der
Insassen von Konzentrationslagern zeigen. Auch Joachim Petzold wies zurecht
darauf hin, daß sich die nationalsozialistische Ideologie in Verbindung mit dem
Schachspiel als nicht tragfähig erwies.[66]
[1]
R. zur Lippe, zitiert nach: Homo Ludens. Der spielende Mensch IV.
Internationale Beiträge des Institutes für Spielforschung und Spielpädagogik
an der Hochschule „Mozarteum“ Salzburg, München/Salzburg 4. Jg.
1994, S. 9.
[2]
Vgl. M. Czikszentmihalyi, Some Paradoxes in the Definition of Play, in: Play
as Context, hsrg. von T. Cheska, New York. 1981, S. 14-25.
[3] B. Bettelheim, Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation, Stuttgart 1980, S. 59. Die Abhandlung erschien zum ersten Mal im Journal of Abnormal and Social Psychology 38, Oktober 1943, S. 417-452.
[4]
Vgl. D. Wasowicz, Przejawy zycia kulturalnego w hitlerowskich obozach
koncentracyjnych, in: Zeszyty Majdanaka.- Lublin, 9/1977, S. 5-30. Übersetzt
von J. Kalinski.
[5]
Vgl. D. Wasowicz, Resistance in the Nazi Concentration Camps 1933-1945,
Warszawa 1983, S. 51. Übersetzt
von J. Kalinski.
[6]
Vgl. V. E. Frankl, Psychologie im Notstand. Psychotherapeut. Erfahrungen im
Konzentrationslager, in: Hygiene, Wien 1, 1950/52, S. 177-186.
[7]
Vgl. E. Buchmann, Die Frauen von Ravensbrück, Berlin 1961, S. 103.
[8] A. Karau/W. Renner (Hg.), Schwarz und Weiß, S. 175.
[9] B. Bettelheim, Erziehung zum Überleben, S. 67.
[10]
Vgl. E. A. Cohen, Het duitse concentratiekamp. Een
medische en psychologische studie, Paris/Amsterdam2 1952, S. 104.
[11]
Ebd., S. 150.
[12]
J. Bernard, Pfarrerblock 25487. Ein Bericht, hsrg. von Charles Reinert u.
Gebhard Stillfried, München 1962, S. 174.
[13] B. Bettelheim, Erziehung zum Überleben, S. 79. Dort wird geschildert, wie ein früherer Vertreter der unabhängigen Sozialistischen Partei im sechsten Jahr seiner Inhaftierung Selbstmord beging, weil er befürchtete, das Lager hätte ihn gänzlich verändert.
[14]
V. E. Frankl, Psychologie im Notstand, S. 178.
[15] B. Bettelheim, Erziehung zum Überleben, S. 63.
[16] G. Klaus, Erlebte Schachnovelle, S. 166 f.
[17]
J. Huizinga, Homo Ludens. Vom
Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbeck 1987, S. 56.
[18]
A. Hrdlicka, Schach Zeichnungen, Düsseldorf 1983, S. 8 f.
[19]
Ähnliche Eindrücke wurden auch aus den anderen Ghettos entnommen. Vgl.
T. Bialer, Behind the Wall, Collier’s, o.O. 20.2.1943, S. 18. Für das
Lodzer Ghetto siehe L. Dobroszycki (Hg.), The Chronicle of the Lodzer
Ghetto, 1941-1944, New Haven 1984, S. 344 und 470 f.
[20]
Vgl. G. Eisen, Spielen im Schatten des Todes. Kinder im Holocaust, München
1993.
[21]
I. Trunk, Lodzer Ghetto. New York: YIVO Archives 1962, zitiert nach: G.
Eisen, Spielen im Schatten des Todes, S. 66. Diese Dokumente wurden in den
Ringelblum-Arichiven hinterlegt, die alle dokumentarischen und literarischen
Zeugnisse über die Vernichtung des polnischen Judentums während des
Holocaust retten sollten.
[22]
R. Vreba/I. Bestic, I Cannot Forgive, New York 1964, S. 182.
[23]
B. Hershkovitsch, Ghetto in Litzmannstadt, o.O. und o.J. S. 94.
[24]
B. Ferderber-Salz, And the Sun Kept Shining, Holocaust Libary, New York
1980, S. 96 f. Zitiert nach: L. Dawidowicz, The War Against the Jews
1933-1945, New York 1975, S. 307.
[25]
Zitiert aus L. L. Langer, Versions of Survival. The Holocaust and the Human
Spirit, Albany 1982, S. IX.
[26]
Zitiert nach: M. Liebermann, Nachforschungen über Elly Schliesser, in: Sinn
und Form, Berlin, Nr. 34/1984, S. 1161-1179, hier S. 1170.
[27]
Ebd., S. 1169.
[28]
F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe
von Briefen, Stuttgart 1965, 15. Brief, S. 63.
[29] E. Strouhal, Duchamps Spiel, S. 37.
[30] F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 253.
[31]
Vgl. P. Levi, Ist das ein Mensch?, Frankfurt/M. 1979, S. 119.
[32]
N. Rost, Goethe in Dachau. Literatur und Wirklichkeit, München 1949, S.
242.
[33]
J. Flusser, Gespräch mit Dr. Jindrích Flusser, Prag, 22. 3.1988, Leipzig
1988, Bl. 3.
[34] W. Langhoff, Die Moorsoldaten, Stuttgart 1982, S. 175. Aus dieser Veranstaltung erwuchs auch das berühmt gewordene Lied der Moorsoldaten. Zu finden auf S. 191-193.
[35] Ebd., S.182.
[36] K. A. Wittfogel, Staatliches Konzentrationslager VII. Eine Erziehungsanstalt im Dritten Reich, Bremen 1991, S. 1166 f.
[37] B. Bettelheim, Erziehung zum Überleben, S. 93 f.
[38]
Vgl. J. Gizycki, Schach zu allen Zeiten, Zürich 1967, S. 339.
[39] A. Karau/W. Renner (Hg.), Schwarz und Weiß, S. 173.
[40] P. Langer, Erinnerungen eines Moorsoldaten von Juni 1937 bis September 1940 (Manuskript), in: Archiv DIZ Emslandlager, S. 19.
[41] W. Dickhut, So war’s damals ... Tatsachenbericht eines Solinger Arbeiters 1926-1948, Stuttgart 1979,
S. 219 f.
[42] In der Dauerausstellung des Emslandmuseum in Lingen findet sich ebenfalls ein Schachbrett samt Figuren. Die Läufer dort tragen Militärkleidung und die Bauern sehen wie polnische Bauern aus. Das Spiel wurde einem Aufseher von einem polnischen Häftling geschenkt.
[43] Brief von Frau Hoffmann an das DIZ in Papenburg mit Übersendung eines Schachbrettes. Mir zur Verfügung gestellt von Fietje Ausländer, einem Mitarbeiter des DIZ.
[44] Akte H. Behrendt, zu finden in: Archiv DIZ Emslandlager, S. 2.
[45] Entnommen aus einem Brief von Hans Drozd vom 21.10.1997. Der Weltkrieg, das Schachspiel und das Konzentrationslager bilden ebenfalls den Hintergrund für den Kriminalroman Die Lüneburg-Variante von P. Mauresing, Frankfurt/M. 1994. In dem Roman wird ein reicher deutscher Unternehmer durch das Spielen einer bestimmten Variante erkannt und seine Vergangenheit als Leiter des Konzentrationslagers Bergen-Belsen decouviert. Der Autor zeigte die Geschichte zweier Rivalen: die des Nazis Frisch und die des jüdischen Meisters Tabori, der von Frisch im KZ zum Schachspielen gezwungen wurde. Als Einsatz für die Schachpartien galt das Leben der Mithäftlinge. Tabori, der das Leben der anderen durch sein Spiel rettete, sich selbst aber dabei verbraucht, wird von einem seiner Schüler gerächt.
[46] A. Karau/W. Renner (Hg.) Schwarz und Weiß, S. 176. Hauptscharführer Dammbach schrieb nach dem Krieg an ehemalige Häftlinge, um sich aus seiner „Schachmarotte den Nachweis seiner Menschlichkeit“ bestätigen zu lassen. Ebd., S. 178. Vgl. auch J. Petzold, Schach in faschistischen Konzentrationslagern, in: Schach, Nr. 10/1975, S. 297 f.
[47] E. Walksen, Warten auf die Freiheit. Zeichnungen und Aquarelle eines Moorsoldaten 1935-1939, Wuppertal 1984.
[48]
B. Spanjaard, Don’t fence me in! An American Teenager in the Holocaust,
10. Aufl.
1988, in: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung,
Signatur: C8-76, S. 131 f.
[49]
A. Eisenberg (Hg.), Witness to the Holocaust, New York 1981, S. 345.
[50]
J. Riker, International Study of Organized
Persecution of Children, File BB-D/AA, S. 43. Vgl. dazu auch J. M. Riker,
Game Training and Game Involvement, in: Ethnology, Nr. 1/1962, S. 85-116.
[51] W. Bredel, Die Prüfung, Berlin 1974, S. 267. Die Figuren der Prüfung waren nicht authentisch, sondern fiktiv.
[52]
C. Bär, Von Göttingen über Osleb nach Godesberg. Politische Erinnerungen
eines Hamburger Pädagogen 1919-1945, Hamburg 1979, S. 74.
[53]
J. Gizycki, Schach zu allen Zeiten, S. 342.
[54] Brief, erhalten von der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen am 9.10.1996.
[55]
G. Agde, Sachsenhausen bei Berlin. Speziallager Nr. 7 1945-1950, Berlin
1994, S. 84.
[56]
Vgl. zu diesem Thema auch S. Zweig, Schachnovelle, Frankfurt 1981.
[57]
Zitiert in einem Manuskript von G. Silkes, Der Yiddische Lehrer im
Warschauer Ghetto, in: G. Silkes, Collection, New York 1979.
[58] T. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1977, S. 469 f.
[59]
P. Mechanicus, A Year of Fear. A Jewish Prisoner Waits for Auschwitz,
Hawthorn 1968, S. 87.
[60]
B. Bettelheim, Erziehung zum Überleben, S. 73.
[61]
V. M. Axline, Play Therapy, Boston 1947, S. 16.
[62]
Gespräch mit G. Silten. Zitiert nach: G. Eisen, Spielen im Schatten des
Todes, S. 172.
[63] B. Bettelheim, Erziehung zum Überleben, S. 72.
[64] T. Rahe, Kulturelle Aktivitäten jüdischer Häftlinge im Konzentrationslager Bergen-Belsen, in: Menora. Jahrbuch für dt.-jüd. Geschichte, 1993, S. 111-138.
[65]
S. Unseld, Nachwort zur gebundenen Ausgabe der Schachnovelle, Frankfurt/M.
1979, S. 125.
[66] Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß J. Petzold 1985 in der DDR einen Artikel über die Geschichte der Arbeiterbewegung zu veröffentlichen versuchte, den geplanten Artikel aufgrund der Einwände des damaligen Generalsekretärs des Schachverbandes, der sich als politischer Wachhund betätigte, jedoch nicht publizieren durfte. Es störte ihn, daß Petzold sich mit einem Mann namens Georg Klaus in der widerspruchsvollen NS-Zeit beschäftigte. In einem Antwortschreiben kritisierte der Generalsekretär: „Obwohl als Kommunist und Repräsentant der verbotenen Arbeiterschachbewegung bekannt, wurde G. Klaus zur Meisterschaft zugelassen. Wollen wir jemandem Munition liefern? [...] Aussagen können wir nur dort treffen, wo Kommunisten oder Sozialdemokraten die Sportorganisation nutzten, um ihren Kampf gegen den Faschismus zu tarnen oder wo namhafte Sportler an diesen Kampf teilnahmen. (Die Namen sind bekannt) Sicher hat es, wie auch in anderen Sportarten auch im Schach Kommunisten und Nazigegner gegeben, die damals Schachvereinen angehörten, aber wie die übrige Mehrheit unseres Volkes nicht aktiv gegen den Faschismus kämpften. Aber darüber brauchen wir nicht zu schreiben.“ Stellungnahme des Generalsekretärs des DDR-Schachverbandes aus dem April 1986. Diese Stellungnahme verdeutlicht die Linie, die in der ehemaligen DDR durchgesetzt werden sollte. Dies war nicht die einzige Auseinandersetzung Petzolds mit den DDR-Behörden. So haben die Zollbehörden der DDR einen Artikel über das DDR-Schach solange zurückgehalten, bis selbiger nicht mehr in Fonders Lexikon für Schachfreunde veröffentlicht werden konnte. Laut den Akten der Gauk-Behörde wurde die Schachkorrespondenz Petzolds mit dem westdeutschen Großmeister und Verleger Lothar Schmid jahrelang kopiert und registermäßig erfaßt. Eine Auseinandersetzung mit dem Schach im Dritten Reich scheint nicht ganz ohne Brisanz zu sein. Dies mußte auch Michael Ehn erfahren, als er feststellte, daß einige Personen im österreichischen Schach vorbelastet waren und zum Teil Berufsverbot nach 1945 erhielten. Nachdem Ehn im STANDARD (Februar 1991) darauf hinwies, wurde ihm vorgeworfen, dem Schach zu schaden. Er erhielt Drohanrufe und mußte Beschimpfungen über sich ergehen lassen.