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Zu Ciceros philosophischen Schriften

Inhaltsverzeichnis

  1. Warum verfasste Cicero seine philosophischen Schriften?
  2. Cicero – ein Philosoph?
  3. Cicero über seine Motive
  4. Cicero über seine Vorgehensweise

Warum verfasste Cicero seine philosophischen Schriften?

„Ciceros schriftstellerische Brillianz kann leicht die Tatsache verdunkeln, daß er selbst, sein Leben lang, nichts so sehr sein wollte wie ein Staatsmann. Es mag daher tragisch scheinen, daß … er Unsterblichkeit mit Dingen erlangte, die er nur als einen Ersatz für die Politik betrachtete. … obwohl er sich seiner Leistungen auf diesem Felde <sc. der Philosophie> durchaus bewußt war und voller Stolz von ihnen sprach, waren sie ihm doch nur ein bescheidener Trost für das, was er eigentlich zu tun wünschte, was ihm jedoch fast immer versagt blieb: eine bestimmende Rolle in der Politik zu spielen und Ruhm als Lenker der Republik zu gewinnen. Es ist die Folge seines politischen Ehrgeizes, daß nahezu alle seine philosophischen, rhetorischen und staatstheoretischen Schriften in Jahren entstanden sind, in denen er gezwungen war, sich jeder größeren politischen Aktivität zu enthalten, d. h. in den Jahren 54-51 (während der Vorherrschaft des Pompeius und Caesar), sodann in den Jahren 46-44 (unter Caesars Diktatur). Cicero betont mehrmals ausdrücklich, daß die Politik für ihn Vorrang hatte, Muße und gelehrte Arbeit nur ein Notbehelf waren.“ [1]

Cicero – ein Philosoph?

„Natürlich können wir ihn <gemeint ist Cicero> nicht in einem Atem mit den Klassikern Platon und Aristoteles, mit Epikur, Chrysipp, auch nicht mit Panaitios und Poseidonios nennen. Er hat keine eigenen zusammenhängenden Theorien entwickelt; er war kein Systematiker – Philosophie, wie wir uns erinnern müssen, war auch nicht sein Hauptgeschäft. Cicero war aber ein kompetenter Fachmann für philosophische Theorien, er hatte unmittelbares Interesse und eine nicht alltägliche Begabung für philosophische Diskussion. Lebenserfahrung, in einer ungewöhnlichen Breite gewonnen, rhetorische und juristische Schulung machten ihn fähig, das Wesentliche auch einer philosophischen Konzeption zu erfassen, die Konsequenzen einer These zu entwickeln, ihre kritischen Punkte herauszufinden und konkurrierende Lösungen sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Das sind unverächtliche, nicht häufige Fähigkeiten, die man auch bei professionellen Philosophen nicht immer in einer vergleichbaren Ausprägung wie bei Cicero vorfindet. Bloße Originalität, auf die die Beurteiler des 19. Jahrhunderts so großen Wert legen, ist oft auch Einseitigkeit der Sichtweise, Mangel an Common sense und kritischer Distanz gegenüber den eigenen Auffassungen. Große Philosophie kann nur entstehen, wo beides zusammenkommt: Intuition und kritische Kontrolle. Cicero hatte das eine, durchaus seltene Element, nämlich philosophisches Urteil. Ihm fehlte es an philosophisch-systematischer Phantasie. Aber, noch einmal, nicht diese allein macht den Philosophen … „ [2]

Cicero über seine Motive

Nunc vero – et fortunae gravissimo percussus vulnere et administratione rei publicae liberatus – doloris medicinam a philosophia peto et otii oblectationem hanc honestissimam iudico.
(Accademica posteriora 1,11)
„Nun aber, nachdem ich sowohl durch eine sehr schwere Wunde des Schicksals erschüttert [3] und von der Verwaltung des Staates befreit worden bin [4], erstrebe ich das Heilmittel des Schmerzes von der Philosophie und halte diese Unterhaltung meiner Muße für am ehrenhaftesten.“
Nostrum autem otium negotii inopia, non requiescendi studio constitutum est. Extincto enim senatu deletisque iudiciis quid est, quod – dignum nobis – aut in curia aut in foro agere possimus?
(De officiis III 2)
„Unsere Muße ist aber durch den Mangel an Beschäftigung, nicht durch das Streben, uns zu erholen, geschaffen worden. Denn nachdem der Senat ausgelöscht [5] und die Gerichtshöfe zerstört worden sind [6], was gibt es <noch>, das wir – unserer würdig – entweder in der Kurie oder auf dem Forum tun können?"

Cicero über seine Vorgehensweise

… nos non interpretum fungimur munere, sed tuemur ea, quae dicta sunt ab iis, quos probamus; iisque nostrum iudicium et nostrum scribendi ordinem adiungimus …
(De finibus I 6)
„… ich verrichte nicht die Aufgabe eines Übersetzers, sondern verteidige das, was von denen gesagt worden ist, deren Meinung ich billige [7]; und diesem füge ich mein Urteil und meine Ordnung der Darstellung hinzu …“
Sequimur … hac in quaestione potissimum Stoicos, non ut interpretes, sed – ut solemus – e fontibus eorum iudicio arbitrioque nostro, quantum quoque modo videbitur, hauriemus.
(De officiis I 6)
„Ich folge … in dieser Frage hauptsächlich den Stoikern, nicht wie ein Übersetzer, sondern werde – wie ich es zu tun pflege – aus deren Quellen nach meinem Urteil und freien Ermessen schöpfen, wieviel und auf welche Weise mir gut erscheinen wird.“

Anmerkungen

1) Christian Habicht „Cicero der Politiker“, München 1990, S. 10-11.
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2) Günther Patzig „Cicero als Philosoph, am Beispiel der Schrift ,De finibus'", in: ders. „Gesammelte Schriften III. Aufsätze zur antiken Philosophie", Göttingen 1996, S. 257-258
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3) Die Academici libri, aus denen dieser Text entnommen ist, sind nach dem Tod der Tochter (im Februar 45) im Verlauf des Frühsommers 45 geschrieben worden.
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4) Dass Cicero hier davon spricht, von der Verwaltung des Staates „befreit" worden zu sein, hängt wohl damit zusammen, dass die Academici libri zu Caesars Lebzeiten verfasst wurden.
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5) Diese Passage scheint nach der Ermordung Caesars niedergeschrieben worden zu sein, als Antonius das entstandene Machtvakuum für sich ausgenutzt hat:

„The Senate's political power and freedom of debate had been destroyed by Antony the consul this year, who three days after Caesar's death surrounded with his armed followers the temple of Telus, and later in the year that of Concordia where the Senate usually sat.“ Hubert Ashton Holden „M. TULLI CICERONIS DE OFFICIIS LIBRI TRES“, Amsterdam 1966 (Nachdruck), S. 350
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6) „The law courts were of necessity closed by the enforced absence of the praetors, Brutus and Cassius.“ Holden, a. a. O., S. 350
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7) Besser natürlich Patzig, a. a. O., S. 255-256: „tuemur ea quae dicta sint ab iis quos probamus kann nicht heißen ,wir verteidigen, was diejenigen Philosophen behauptet haben, die wir akzeptieren (deren Meinungen wir für richtig halten, billigen)‘. Denn Cicero führt ja in ,De finibus‘, aus deren Proömium unser Satz stammt, keinesfalls die Ansichten derer vor, denen er als Philosoph folgt, sondern gerade solche Lehren, die er sachlich scharf kritisiert, die Auffassungen Epikurs und der Stoiker, schließlich peripatetisch-akademische Auffassungen, denen er zwar nahesteht, an denen er aber doch auch gewichtige Aporien bemerkt. tueri ist also hier ein rechtssprachlicher Ausdruck und bedeutet ,etwas als Sachwalter vertreten, in seine Obhut nehmen‘. Cicero will jeweils wie ein guter Anwalt der in Betracht kommenden Schulmeinung auftreten, sie optimal vortragen, ihre Argumente so stark wie möglich erscheinen lassen. probare heißt entsprechend nicht ,akzeptieren‘ oder ,billigen'; es heißt vielmehr ,schätzen‘ oder ,anerkennen‘ und bezieht sich auf die Philosophen, die Cicero jeweils als kompetente Vertreter einer Schulrichtung ernstnimmt und gelten läßt. tuemur ea quae dicta sint ab iis quos probamus heißt also: ,Wir machen uns zum Sachwalter der Ansichten derer, die wir als kompetente Vertreter ihrer philosophischen Richtung schätzen‘. […]

Cicero hat also seine eigene Leistung vor allem in folgendem gesehen (und dadurch sein eigenes Verfahren von bloßer Übersetzung unterscheiden wollen): Er nimmt für sich in Anspruch, unter den vorliegenden Autoren jeder Schulrichtung repräsentative und kompetente Vertreter ausgewählt, ihre Auffassungen adäquat vorgetragen, kritisch geprüft und dabei eine eigenen Maßstäben entsprechende literarische Form der Darstellung gesucht zu haben.“
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URI dieser Seite: <http://www.ewetel.net/~martin.bode/Cicphil.htm>, zuletzt geändert: 30.01.04

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